Warum radikalisieren sich manche Jugendliche und andere nicht? Wann besteht die Gefahr, dass auf eine Trennung ein Tötungsdelikt folgt? Kein Fall gleicht dem anderen. Aber Experten haben Erklärungen, was solche Taten begünstigt.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Berlin - Vor einiger Zeit hat Heidi Kastner angefangen, die Menschen, die sie begutachtet, zu fragen, ob sie Trennungserfahrung gemacht haben. Die forensische Psychiaterin aus Linz hat es in der Regel mit Männern und Frauen zu tun, die schwerste Straftaten begangen haben. Sie haben getötet, vergewaltigt oder Menschen körperliche und seelische Gewalt angetan. Auch Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre gefangen hielt und mit ihr Kinder zeugte, gehört zu den Menschen, über deren Schuldfähigkeit Kastner Gutachten für das Gericht gefertigt hat.

 

Kastner ist also eine der Expertinnen, sucht man eine Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen und unter welchen Rahmenbedingungen Menschen straffällig werden. Mit „Krisen, Fehlentwicklung und Delinquenz im Lebensverlauf“ beschäftigte sich die 21. Juni-Tagung der Forensischen Psychiatrie der Berliner Charité. Zwischen Krise und dem Abgleiten in die Delinquenz verlaufe ein ganz schmaler Grat, sagt Kastners Berliner Berufskollege Hans-Ludwig Kröber. Die Frage an viele Experten zu stellen heißt, dass es immer nur Näherungen an mögliche Antworten geben kann. Denn jedes Leben ist ein eigener Cocktail, wie ein Teilnehmer sagt. Der Historiker und Gewaltforscher Jörg Barberowski gießt zusätzlich Wasser in den Wein, wenn er sagt, dass es die allgemeingültige Lebensgeschichte eines Menschen nicht gebe. „Was ist angemessen, auf der Kette des Lebens angeordnet zu werden?“, fragt er zurück. Lebensgeschichten sind für ihn das Resultat aus Wahrnehmungen und Deutungen.

Kastner fand durch ihre Befragungen jedoch eine der möglichen Antworten auf die Frage: „80 Prozent der Tötungsdelikte resultieren aus Trennungen.“ Trennungen, so konstatiert sie, „sind Belastungssituationen“. Ein wissenschaftliches Rating für Faktoren, die das Leben aus der Bahn werfen, aus dem Jahr 1967 deutet schon in diese Richtung. Dort werden einschneidenden Erlebnissen Punkte gegeben. 100 Punkte pro Jahr, so sagt die Versuchsanordnung, hält der Durchschnittsmensch aus, ohne krank zu werden. Der Tod des Ehepartners wird dabei mit 67, die Trennung mit 63 Punkten veranschlagt. Sie sind die mit den meisten Punkten belegten Lebensereignisse. Der Verlust des Arbeitsplatzes und eine Inhaftierung schlagen mit 40, Weihnachten mit zwölf Punkten zu Buche. Kastner ist allerdings überzeugt, dass die selbst gewählte Trennung dem schicksalhaften Tod des Partners in seiner krankmachenden Bedeutung mittlerweile den Rang abgelaufen hat. Denn diese Erfahrung geht einher mit enttäuschten Erwartungen und dem Gefühl, „dass ein Teil der eigenen Biografie für entbehrlich definiert wird“.

200 Menschen sterben jährlich durch ihren Partner

Es sei allerdings ein Merkmal des reifen Menschen, erklärt Kastner, „sich trennen zu können“. Manchmal jedoch töten die Beteiligten ihren Partner. Etwa 200 Menschen kommen so jedes Jahr in Deutschland zu Tode. Es gibt aber auch verdeckte Trennungsdelikte, die nicht auf den ersten Blick als solche erkennbar sind. Im Fall des jungen Mannes, der drei Frauen überfallen hatte, deutete erst einmal nichts auf einen solchen Auslöser hin. An drei aufeinanderfolgenden Tagen hatte er seinen Opfern in Tiefgaragen aufgelauert, sie mit äußerster Gewalt niedergeschlagen, beraubt und war in zwei Fällen mit ihrem Auto geflüchtet. Er wird dennoch gefasst – und leugnet. Zuvor ist er nicht strafrechtlich aufgefallen. Auf ein sexuelles Motiv deutet nichts.

Kastner trifft im Explorationsgespräch auf einen jungen Mann, der ihr mit gesenktem Kopf und reduzierter Mimik, den Anzeichen einer Depression, gegenübersitzt. Er berichtet schließlich von einer Kindheit zwischen Großtante und Heim, die schizophrene Mutter kann ihn nicht versorgen, der Vater ist unbekannt. Vor den Taten beendet seine Freundin die Beziehung – die erste echte – nach sieben Jahren und sechs Monaten. Sie will einen Lebenspartner, der ihr finanziell mehr bieten kann. Der junge Mann beginnt mit den Überfällen.

Beziehungen geben potenziellen Tätern Halt

Es überrascht nicht, dass Liebe oder tragfähige Beziehungen Menschen offenbar davor schützen, Straftaten zu begehen. Eine Beziehung, so berichten der Entwicklungspsychologe Olaf Reis und der Kinder- und Jugendpsychiater Steffen Weirich, ist einer der Faktoren, die ihre jugendlichen Klienten, die an schizophrenen Störungen leiden, stützen. Ein Großteil beider Arbeit sei deshalb auch, Rahmenbedingen zu optimieren. Das ist sowohl Schutz für die Erkrankten als auch für deren potenzielle Opfer, werden schizophren erkrankte Menschen doch häufiger wegen einer Straftat verurteilt als andere.

Vereinsamung und Selbstisolation ziehen sich auch wie ein roter Faden durch die Leben terroristischer Täter und Gesinnungstäter, mit denen sich der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Henning Saß seit Jahren als Gutachter beschäftigt. Aktuell ist er vom Münchner Oberlandesgericht im NSU-Prozess mit einem Gutachten zur Schuldfähigkeit der Hauptangeklagten Beate Zschäpe beauftragt. In Berlin spricht er deshalb nicht über sie, sondern über die Radikalisierung im Leben des Una-Bombers Theodore Kaczynski, des Norwegers Anders Breivik oder des Islamisten Emrah E. Den universellen Typus des Gesinnungstäters und den universellen Lebensweg des Gesinnungstäters gibt es nach Saß’ Überzeugung nicht. Bei den islamistischen Tätern sieht der Psychiater meist keine Krankheitsstörungen.

Bewusste Entscheidung zur Radikalisierung

Gemeinsam sind den unterschiedlichen Persönlichkeiten jedoch egozentrische und narzisstische Züge. In den Biografien spielen Schwächen im Selbstwertgefühl und Isolierung eine wichtige Rolle, die wiederum mit dem Streben nach Macht und Grandiosität einhergehen. Alle formulieren Manifeste zu ihrem Tun oder erfahren Stärkung nach Brüchen in der Biografie durch eine Gruppe oder eine radikale Ideologie. Die lange Entwicklung zu extremen Sichtweisen bedeutet für Saß, dass sich die Täter immer wieder für diesen Weg entscheiden – und sich deshalb auch dagegen hätten entscheiden können. Kommt nicht noch Krankheit zu ihrem Tun, seien diese Täter schuld – und einsichtsfähig. Sie können für ihre Taten vor Gericht also zur Verantwortung gezogen werden.