Am Neujahrsmorgen haben mehr als 40 Mitglieder der islamischen Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat in Stuttgart zahllose Plastiktüten, leere Sektflaschen, zerfetzte Kanonenschlägen und ausgebrannte Raketenabschussrampen aufgesammelt. Für die Gemeinschaft ist dieses bürgerschaftliche Engagement ein ehrenvoller Dienst für die Menschheit, den der Islam gebietet.  

Stuttgart - Am Neujahrsmorgen hängt dichter, nasskalter Nebel in der Haußmannstraße. Von wegen Aussichtspromenade. Der Gehweg ist menschenleer, das schlechte Wetter treibt ja auch wohl auch niemanden schon vor neun Uhr hinaus auf die Straße.

 

Niemanden? Doch, da vorne bewegt sich jemand! Während viele Stuttgarter nach der Silvesterparty noch schlafen, läuft in der Haußmannstraße bei der Jugendherberge bereits die erste Kehrwoche des Jahres 2016. Mehr als 40 Mitglieder der islamischen Glaubensgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat (AMJ) schwingen dort die Besen, um den Bürgersteig und die Straße von zahllosen leeren Plastiktüten, zerfetzten Kanonenschlägen und ausgebrannten Raketenabschussrampen zu säubern. Auch viele Sektflaschen werden eingesammelt.

„Mit dabei sind auch zehn Flüchtlinge, denen wir helfen, sich in Deutschland zu integrieren“, sagt der AMJ-Sprecher Manan Haq. Diesen wolle man vermitteln, dass das Bekenntnis zur Demokratie auch der Glaubenslehre des Islam entspreche. Bereits um sechs Uhr hätten sich alle Helfer zum Friedensgebet für die „leider nicht sehr friedliche Welt“ und zum Frühstück im Cannstatter AMJ-Zentrum getroffen.

Der Islam lehrt, anderen uneigennützig zu helfen

Danach haben die Muslime angepackt und innerhalb von eineinhalb Stunden zwischen der Haußmannstraße 28 und 56 mehr als 50 blaue Müllsäcke mit Silvesterabfällen gefüllt. „Für uns ist das ein Waqar-e-Amal, ein ehrenvoller Dienst für die Menschheit“, erläutert Haq, der als Forschungsingenieur arbeitet. Das bedeute, sich selbst und anderen ohne Gegenleistung mit eigener Hand zu helfen. „Das ist einer der wichtigsten Grundsätze unseres Glaubens.“ Der Islam lehre, dass der Mensch geboren worden sei, um Gott und den Menschen zu dienen. Der Dienst für die Gemeinschaft am Neujahrstag stehe dafür als ein Beispiel. „Das ist unser Neujahrsgeschenk für unsere Mitmenschen.“ Es sei schön, ein neues Jahr mit einer guten Tat zu beginnen.

Dieses bürgerschaftliche Engagement besteht in der Stuttgarter AMJ-Gemeinde schon seit 19 Jahren. Auch in Böblingen, Waiblingen und anderen Gemeinden in der Region gebe es am Neujahrstag solche freiwilligen Aktionen, sagt Haq. „In Stuttgart unterstützt uns der städtische Eigenbetrieb Abfallwirtschaft (AWS), der die gefüllten Abfallsäcke abholt.“

Gegen religiös motivierte Gewalt

Einige Stunden vor ihrem Kehrwocheneinsatz haben die meisten Helfer auch mit Freude und Hoffnung das neue Jahr begrüßt. „Vor zwei Uhr ist wohl niemand ins Bett gekommen“, vermutet Haq. Viele Feuerwerkskörper seien von den Mitgliedern der Gemeinde aber bestimmt nicht angezündet worden. „Wir sind für Brot statt Böller“, betont der AMJ-Sprecher. Man sammle Geld und kaufe dafür Lebensmittel und Kleidung für Arme in Afrika.

Die AMJ ist eine Reformgemeinde, die bereits 1889 in Indien mit dem Ziel gegründet wurde, die ursprünglichen Werte des Islams wiederzubeleben. Laut eigener Aussage geht es dabei unter anderem um Gleichheit von Frau und Mann, die Trennung von Religion und Staat und um die Beendigung religiös motivierter Gewalt. Weltweit hat die die AMJ-Gemeinschaft mehrere Millionen Gläubige. In Deutschland gibt es mehr als 35 000, von denen gut 300 in Stuttgart leben.