„Newtopia“ wurde von Sat 1 als das größte TV-Experiment aller Zeiten angekündigt: 15 Pioniere erhalten die Chance auf ein besseres Leben. Die ersten Folgen wecken die Lust auf mehr.

Stuttgart - Dunkle Wolken über Newtopia. Der erste Kandidat, der dreißigjährige Student Lenny, warf schon nach einer Woche das Handtuch. Diagnose: Heimweh. Nur eine Woche später zog auch die Buchhalterin Kerstin, 38, aus. Und dann auch noch das: Schulleiterin Isolde, 55, kollabiert. Sie kommt mit Blaulicht ins Krankenhaus. Das sind – zugespitzt formuliert - die wichtigsten Ereignisse vom Set der neuen Reality Soap „Newtopia“, vor zwei Wochen bei Sat 1 gestartet als das „größte TV-Experiment aller Zeiten“. Fünfzehn Kandidaten zogen in eine leere Scheune im brandenburgischen Königs Wusterhausen.

 

Es gab weder ein Bad noch ein WC. Eine Kiste mit persönlichen Siebensachen, das war alles, was sie mitnehmen durften – neben der Bereitschaft, sich ein Jahr lang dabei zuschauen zu lassen, wie sie sich hier im märkischen Sand eine neue Existenz aufbauen. So sehen es die Regeln für diese Show aus der Kreativ-Schmiede des Big-Brother-Erfinders John de Mol vor.

Möchtegern-Stars haben hier nichts zu suchen

Und was soll man sagen? Noch entsprechen die Quoten nicht den hohen Erwartungen, die Sat 1 mit dem PR-Getöse im Vorfeld selber geschürt hat. Die Zahl der Gesamtzuschauer sank von drei auf zwei Millionen. Und nach den ersten beiden Abgängen beschwört die Bild-Zeitung schon den Ernstfall: „Ist das Format zu hart für die Kandidaten?“ Doch das mediale Begleitrauschen gehört zum Geschäft. Abschiede, Ausstiege, Zusammenbrüche, das ist der Stoff, nach dem der Boulevard giert – kostenlose PR für ein Genre, das zwar Authentizität für sich reklamiert, das aber davon lebt, dass es die Grenze zwischen Realität und Inszenierung verwischt.

Und diese Werbung kann „Newtopia“ gut gebrauchen. Unglaublich, aber wahr: Das Format ist eine Perle im Einerlei des Vorabends, ein angenehmer Kontrast zu „Berlin, Tag und Nacht“ und „Alles, was zählt“ – beides Soaps, die zeitgleich um 19 Uhr auf RTL 2 und RTL laufen. Und das verdankt das Format in erster Linie seinen Kandidaten. Es sind keine Möchtegern-Stars sondern Persönlichkeiten, die mit beiden Beinen im Arbeitsleben stehen. Als Bio-Bauer oder Buchhalterin, als Elektriker oder Aldi-Kassiererin, als Key-Account-Manager oder als Koch.

Melken, Kochen – hier muss jeder mit anfassen

Der Sender hat sie nach ihrer beruflichen Qualifikation gecastet. Es ist also ihr Job, der ihre Rolle in diesem Format bedingt – nicht irgendein Image oder eine Neurose. Das unterscheidet sie von den Insassen des „Dschungelcamps“. Klar, auch die Newtopia-Pioniere sind Selbstdarsteller, auch sie bilden Allianzen und intrigieren. Doch die Selbstinszenierung tritt in den Hintergrund, das liegt in der Natur des Experiments. Newtopia, das ist eine Art Survivalcamp. Hier geht es in erster Linie ums nackte Überleben.

Hier muss jeder mit anfassen. Melken, kochen, eine provisorische Dusche im Freien basteln, einen Sockel für einen Ofen mauern, einen Business-Plan als Wegweiser für die nächsten Monate entwerfen, Buch führen über Einnahmen und Ausgaben. Die Bewohner stellen sich dieser Herausforderung mit einem sportlichen Elan, der geradezu erholsam wirkt im Vergleich zu der Langeweile, die bleiern auf der letzten Staffel des „Dschungelcamps“ lastete.

Kleine Dramen aus dem Alltag

Das Schöne an „Newtopia“ ist aber vor allem, dass es hier gelingt, darüber hinaus noch halbwegs authentisch kleine Dramen aus dem Alltag der Bewohner zu erzählen. Zum Beispiel die Romanze zwischen Model Dziella und Manager Derk. Unter den Pionieren gibt es nur einen Ausreißer: Candy, 44, Politikwissenschaftsstudent im gefühlten 333. Semester, besondere Kennzeichen: zwei linke Hände und ein grauer Zopf, der so verfilzt ist, dass Kammerjäger vor dem Aussterben bedrohte Insekten darin wiederentdecken könnten. Doch auch diese WG braucht eben ein schwarzes Schaf. Und wer würde sich besser für diese Rolle eignen als ein Freigeist, der seine Klamotten immer noch im Hotel Mama waschen lässt, der von nichts Ahnung, aber zu allem eine Meinung hat?

Diese Witzfigur eines Revoluzzers mischt „Newtopia“ kräftig auf. Man kann nur wünschen, dass die Bewohner Candy nicht schon nach einem Monat rauswählen, weil er lieber seinen eigenen Staat im Staat gründen will, als sich den Regeln dieser WG zu unterwerfen. Denn darum geht es: Die Bewohner sollen herausfinden, ob es noch einen anderen way of life gibt als den, den sie hinter sich gelassen haben.