Kultur: Tim Schleider (schl)

Die USA sind durch ihre (weiße) Einwanderungsgeschichte auch ein zutiefst religiöses Land. Scharen verfolgter Protestanten kommen als Auswanderer über den Atlantik in der Hoffnung, in der Neuen Welt ihre religiösen Ideale im Alltag in aller Reinheit verwirklichen zu können. Nun hat Reinheit immer den Anspruch auf Exklusivität, doch die Vielzahl der Bekenntnisse selbst im weiten Raum funktioniert nur durch möglichst weitgehende Toleranz untereinander. Diese einander widersprechenden Tendenzen führen zu einem Paradoxon: Die USA werden ein Staat, der in der Politik konsequent Staat und Kirchen trennt, und doch in seiner politischen Kultur und seinem Alltag viel tiefer kirchlich-religiös geprägt ist als die meisten anderen Länder der westlichen Welt.

 

Die Berliner Ausstellung ist für den Besucher eher lehrreich als lukullisch, aber sehr modern und abwechslungsreich aufbereitet und zweifellos informativ – doch in der Fülle der Details eher eine Phänomenologie als eine kritische Einordnung. Unangenehme Begleiterscheinungen der Verquickung von Religion und Politik wie beispielsweise der kulturelle Kampf gegen die Minderheit der Samen in Schweden oder die Verquickung von Mission und Kolonialismus in Afrika kommen vor, stehen aber auch irgendwie ganz für sich.

Die Kontroverse wird ausgespart

Das Ziel scheint zu sein, eine möglichst große Besucherschar erst einmal neugierig auf das Thema Reformation zu machen, bevor gleich wieder die große Kritikkeule geschwungen wird. Dabei bleibt aber die zweifellos spannende Debatte ausgespart, ob uns der „Luthereffekt“ mit all seinen Aspekten von Theologie und Politik auch etwas lehren kann für unsere aktuellen Debatten über das Verhältnis von Religion, Moderne, Toleranz und Gewalt.

Immerhin, auch zum Ausklang gibt es interessante Töne: einen Film vom Chorfestival der lutherischen Kirche in Usagatikwa in Tansania am 17. Juli 2016. Wie sich da plötzlich in schönster Kleidung ein gemischter schwarzafrikanischer Posaunenchor aufbaut und in aller Festlichkeit einen alten Gesangbuch-Choral darbietet – das illustriert den Luthereffekt auf ausgesprochen anrührende Weise.