Leben: Susanne Hamann (sur)

Der „Jedermann“-Rufer

„Jedermann“-Rufer ist kein Beruf, sondern eine Berufung. Ein lokaltypisches Ehrenamt wie anderswo die Weinkönigin oder das Funkenmariechen. Vier stimmgewaltige Statisten wirken bei den Vorstellungen des „Jedermann“ mit. Gottfried Seer (67) ist seit 17 Jahren einer von ihnen. Das Theaterstück von Hugo von Hofmannsthal gehört zu Salzburg wie die Mozartkugel. Seit 1920 wird es jedes Jahr bei den Festspielen gegeben. Bei schönem Wetter spielt das Ensemble draußen auf dem Platz vor dem Dom. Ungefähr nach 50 Minuten ertönen lang gezogene Rufe: „Je-der-maaaaaan!“ Gruselig muss es widerhallen, denn dies sind die Stimmen der Verdammten aus der Unterwelt, die dem Gerufenen seinen nahen Tod ankündigen. Gottfried Seer ruft vom Turm der Franziskanerkirche, drei Kollegen postieren sich an anderen erhöhten Plätzen. Alle sind äußerst gut bei Stimme – 100 Dezibel müssen schon sein. Eine technische Verstärkung ist verpönt.

 

Der Einsatz dauert nur ein paar Sekunden. „Jeder von uns ist zweimal dran, ziemlich in der Mitte des Stückes“, sagt Gottfried Seer. Dennoch muss der pensionierte Handelsvertreter bis zum Schluss der Vorstellung auf dem Turm ausharren. Denn von hier oben bedient er auch die Glocken – dann hat dem Jedermann im gleichnamigen Stück wortwörtlich das letzte Stündlein geschlagen.

Die Aufgabe macht ihm großen Spaß, auch wenn der Aufstieg ziemlich beschwerlich ist. 250 teils abenteuerlich schmale und steile Stufen geht es hinauf. Damit er nachts wieder sicher herunter findet, hat Gottfried Seer immer eine Taschenlampe dabei. Wie lange er noch rufen mag? „So lange es geht“, sagt er. Den Text kenne er eh.