Wie sahen Neandertaler aus? Aus fossilen Knochenfragmenten haben Forscher das 3D- Antlitz einer 75 000 Jahre alten Neandertalerin aus dem heutigen Irak rekonstruiert. Es ist uns heutigen Menschen ähnlicher als bisher gedacht.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Auf der Erde lebt heute nur noch eine Menschenart, zu der wir alle gehören: der „Homo sapiens“ – der weise Mensch. Aber viele Zehntausend Jahre lang lebte in Europa und im vorderen Teil von Asien eine ganz andere hominine Spezies: Homo neanderthalensis.

 

Im Jahr 1856 wurden in einem Tal bei Düsseldorf Knochenreste vom Neandertaler gefunden. Sie verraten viel über ihn und seine Lebensweise: Dieser Frühmensch war sehr kräftig und hatte stärkere Knochen als wir. Er war kleiner und bastelte sich schon effektive Waffen für die Jagd. Vielleicht konnte er sogar sprechen.

Diorama des Neandertalers im Pôle International de la Préhistoire, Les Eyzies de Tayac Sireuil (Frankreich). Foto: Imago/Imagebroker

Homo sapiens und Homo neanderthalensis

Später kam dann auch der Homo sapiens nach Europa und Vorderasien. Einige tausend Jahre lebten beide in den gleichen Gegenden, vermutlich begegneten sie sich. Aber was passierte dann? Haben sie miteinander gesprochen, einander bekämpft oder sich vielleicht sogar gepaart?

Heute glauben Forscher: Es gab damals tatsächlich gemeinsame Kinder von Neandertalern und modernen Menschen. Sie vermuten sogar, dass die allermeisten Menschen Erbgut von Neandertalern in sich tragen. Die Neandertaler starben vor etwa 30 000 Jahren aus.

Neandertaler-Funde in der Shanidar-Höhle

Der Eingang der Shanidar-Höhle im Nordosten des Irak. Foto: © Graeme Barker

Die Shanidar-Höhle im Nordosten des Irak ist eine berühmte Neandertaler-Fundstätte. Bereits in den 1950er Jahren wurden dort die Überreste von zehn Neandertalern aus der Zeit vor 50 000 bis 70 000 Jahren ausgegraben. Im Jahr 2018 stießen Archäologen in der Höhle auf ein weiteres, 75 000 Jahre altes Neandertaler-Skelett, das sie Shanidar Z nannten.

Der aus mehr als 200 Fragmenten rekonstruierte Schädel von Shanidar Z. Foto: © BBC Studios/Jamie Simonds

Nun haben britische Forscher dem Neandertaler-Fossil erstmals ein Gesicht gegeben. DNA-Analysen und die auf mehr als 200 Schädelfragmenten basierende 3D-Gesichtsrekonstruktion enthüllen, dass es sich um eine Neandertaler-Frau handelte.

Ihr Gesicht war dem des heutigen Menschen ähnlicher als es frühere Neandertaler-Darstellungen nahelegten. Das Fossil liefert zudem neue Hinweise auf die Bestattungspraxis dieser Frühmenschen-Spezies.

Wer war Shanidar Z?

Der Schädel wurde offenbar von einem Felssturz flach gedrückt und in mehr als 200 Fragmente zerrieben. Um mehr über die Tote zu erfahren, hat ein Forscherteam unter Leitung von Graeme Barker von der britischen University of Cambridge die Knochen und das umgebende Gestein mittels Micro-Computertomografie gescannt. Zusätzlich wurden DNA-Analysen durchgeführt, um herauszufinden, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte.

Das Ergebnis: Shanidar Z war eine Neandertaler-Frau, die mit Mitte 40 gestorben sein muss. Auf ihr für damalige Zeit höheres Alter deuten unter anderem die stark abgenutzten Kauflächen ihrer Zähne hin, wie Barker und seine Kollegen berichten. Einige Schneidezähne waren fast bis auf die Wurzeln abgetragen.

Kaum als Fossil zu erkennen: Die Fragmente des Schädels von Shanidar Z an der Fundstelle im Nordirak. Foto: © Graeme Barker
Arm und Rippen des 75 000 Jahre alten Neandertalerskeletts Shanidar Z aus der gleichnamigen Höhle. Foto: © Graeme Barker

Virtuell rekonstruierter Schädel der Neandertaler-Frau

Mithilfe der CT-Scans und in mühevoller Puzzlearbeit fügten die Experten die Schädelfragmente wie bei einem 3D-Puzzle zusammen. „Jedes Schädelfragment wird vorsichtig gesäubert und mit einem Kleber und Bindemittel versetzt, um den fragilen Knochen zu stabilisieren, der sehr weich ist. Er hat eine Konsistenz wie in Tee getunkter Biscuit“, erklärt die Paläoanthropologin Emma Pomeroy von der University of Cambridge die Vorgehensweise.

Herausgekommen ist ein virtuell rekonstruierter Schädel der Neandertaler-Frau, dessen 3D-Druck die Grundlage für eine erste anatomisch-anthropologische Gesichtsrekonstruktion dieses Funds bildet. Die Paläo-Künstler Adrie and Alfons Kennis ergänzten den Neandertalerschädel virtuell um Muskeln, Fettpolster und Haut.

„Die Schädel von Neandertaler und modernem Menschen sind sehr verschieden: Die Neandertaler hatten große Augenbrauenwülste und ein fliehendes Kinn, kombiniert mit einer ausgeprägten Nase“, berichtet Pomeroy. „Aber das rekonstruierte Gesicht spricht dafür, dass diese Unterschiede zu Lebzeiten nicht so stark hervortraten.“

Bestattungspraxis bei Frühmenschen

Die Lage der Gebeine in der Shanidar-Höhle verraten zudem auch einiges über die Bestattungspraxis der Neandertaler und ihre Einstellung zum Tod. „Unsere Entdeckungen zeigen, dass die Neandertaler von Shanidar ähnlich über den Tod und seine Folge gedacht haben könnten wie wir – ihre engsten evolutionären Vettern“, erläutert Barker. So wurde die Neandertaler-Frau auf der Seite liegend in einer Grube zur Ruhe gebettet. Ihr Kopf lag auf einem flachen Stein.

„Der Körper von Shanidar Z lag nur eine Armeslänge von der Stelle entfernt, an der die Lebenden kochten und aßen“, betont Pomeroy. „Für diese Neandertaler scheint es keine klare Trennung zwischen Leben und Tod gegeben zu haben.“ Die zu verschiedenen Zeiten in der Höhle bestatteten Toten legen zudem nahe, dass die Neandertaler immer wieder an diesen Ort zurückkehrten.

Über die Funde und die Rekonstruktion von Shanidar Z hat die BBC eine Dokumentation erstellt, die jetzt unter dem Titel „Secrets of the Neanderthals“ auf Netflix veröffentlicht worden ist.