Wie tickt die Stadt bei Nacht und am Tag? Wie wird sie von denen erlebt, die in ihr feiern, einkaufen, arbeiten? Wir haben fünf Menschen in ihr Stuttgarter Wochenende begleitet. Eine Geschichte zwischen Club und Spielplatz, Alltag und Vergangenheit, Apotheke und Großbaustelle.

Stuttgart - Die Nacht beginnt bereits am Nachmittag.

 

16:54 Uhr: Die ganze Welt ein Wochenende

Selina Emhardts Gedanken kreisen um wichtige Fragen: Jeans oder Kleid? High Heels oder Stiefel? Im Kopf ist dann schon Freitagabend und die Welt ein Wochenende. Selina ist 20 Jahre alt, hat in diesem Jahr ihr Abitur gemacht, ist in Stuttgart aufgewachsen und in das Nachtleben hineingewachsen.

Der Plan für den Abend steht. Es soll in Richtung der Clubs Muttermilch, Tonstudio und 7 Grad auf der Theodor-Heuss-Straße gehen. Es sind ähnliche Wege an jedem Wochenende. Wenn man 20 ist in Stuttgart, ist die Theo noch eine Option. Nein, es ist eine einzige große Möglichkeit. Clubs Tür an Tür und Bars an jeder Ecke. Wenn man 20 ist, ist die Partystraße das, was Älteren die Bars am Hans-im-Glück-Brunnen sind und den Schlaflosen das Climax: eine sichere Sache.

Es ist kalt in der Stadt an diesem Freitagabend. Schnee tanzt vom Himmel, in den Clubs ist es noch ruhig. Die Suche nach dem Leben der Nacht beginnt daher neben der Eisbahn auf dem Schlossplatz. Dort trifft sich Selina gegen 21 Uhr mit ihrer Freundin Vanessa zum Glühwein, Warm-up im wahrsten Sinne und dann der erste Drink im Sausalitos. Die Barkeeper mixen gestenreich Cocktails. Noch ist es Zeit zum Trinken, das Tanzen kommt dann meist von allein, wenn der Alkohol alles gelockert hat. Selina und ihre Freundin bestellen Gin Tonic und erzählen von dem Nachtleben, das für sie gerade erst so richtig beginnt. „Wir gehen gerne in die Muttermilch, weil man da auch immer Leute trifft, die man kennt“, sagt Selina. Kommt man zu zweit, ist man schnell zu viert oder zu sechst. Das macht die Abendplanung entspannt. Eintritt kostet es auch nicht. Nostalgie kommt an diesem Abend nicht auf, denn alles am Nachtleben ist noch neu und hat erst vor wenigen Jahren begonnen. Ein „früher“ muss erst einmal durch Erlebnisse erarbeitet werden. Dann werden die Clubs von heute in der Erinnerung jene Clubs werden, von denen sich Freunde noch in zwanzig Jahren wilde Geschichten erzählen.

Um 1.30 Uhr nachts wird in der Muttermilch getanzt. Selina und Vanessa haben Freunde getroffen. Der Party-Dreischritt Trinken, Lachen, Mittanzen läuft. Die Mädels haben Spaß. „Sollen wir noch ins Tonstudio?“, schlägt einer vor. Zehn Schritte sind es von Clubtür zu Clubtür, inklusive kurzem Frieren in der Schlange. Dann Jacken in die dunkle Ecke legen, Getränke an der Bar ordern und erst einmal schauen, was hier so los ist. Als ein Lied die Lautsprecherbox verlässt, das beide mögen, geht es auf die Tanzfläche. Hier vergeht die Zeit wie im Flug, kein Grund mehr, auf die Uhr zu sehen. „Wir müssen los, der letzte Bus fährt“, sagt Selina irgendwann. Die Abfahrtszeit markiert das Ende der Party. Um 3.33 Uhr fährt der Nachtbus seine letzte Runde. Wie es wohl wird, wenn die Bahn bald die ganze Nacht durchfährt. Das interessiert in dieser Sekunde niemanden. Die Mädels sind müde, der Nachtbus voll. Drängeln lohnt sich, denn ein Sitzplatz ist nicht nur in Kurven eine feine Sache. „Ich freu mich auf mein Bett“, sagt Selina.

03:34 Uhr: Nightlife ist heute Breitensport

Das Bett muss eine ganze Weile warten, wenn man mit Markus „Brody“ Brodbeck unterwegs ist. Brody nimmt die Nacht ernst. Brody ist 48, sieht aus wie 38 und feiert, als wäre er 28, maximal. Müsste man sich in Stuttgart ein Gesicht zum Begriff „Szenenase“ modellieren, das Gesicht würde Brodys Züge tragen. Mit Brodybookings.com betreibt Brodbeck eine der wenigen Modelagenturen in Stuttgart, die diesen Namen verdienen. In Brodbecks Kartei tummeln sich 4000 schöne Menschen, die in Werbung, Film und Fernsehen eingesetzt werden. Brody selbst sieht mit seinen blauen Augen und dem akkurat gestutzten Dreitagebart unverschämt gut aus und bestellt um 22 Uhr zum Start in die Nacht sechs Austern im Restaurant Basta im Bohnenviertel. Kurz: man muss ihn eigentlich hassen.

Geht aber nicht, dafür ist Brodbeck ein zu guter Gesprächspartner, ein zu kurzweiliger Reiseführer durch die Nacht. Vor allem ist Brodbeck ein abgechecktes Nachtschattengewächs, das überall einen Tisch bekommt. Auch an einem Freitagabend in der Vorweihnachtszeit ohne Reservierung. „Brody, die Schnäpse gehen aufs Haus“, sagt der Wirt Markus Pfrommer. Das kann ja heiter werden. Wird es auch. Nach den Austern folgt das Rinderfilet medium rare und die Frage, wie die Stadt im Unterschied zu früher heute nachts tickt. „Nightlife ist mittlerweile Breitensport“, sagt Brody. Als er Anfang der 80er mit Ausgehen anfing, konnte man die anständigen Läden an einer Hand abzählen. Seiner Schätzung nach waren damals maximal 5000 Leute in der Stadt nachts unterwegs, heute fühle es sich nach 50 000 an einem Samstagabend an. „In den 90ern hatten wir mit dem M1, dem Zapata oder dem Red Dog national bekannte Clubs. Für das Zapata-Artwork habe ich in meinem Praxissemester in Mexiko in Bibliotheken das Bildmaterial zusammengesammelt“, erinnert er sich. In das Model-Geschäft ist der Student der ehemaligen FH Druck eher zufällig reingerutscht. „Damals ging die erste Generation Filmstudenten an der Aka in Ludwigsburg an den Start. Es fehlte aber an Castingagenturen.“ Da Brody schon damals in der Szene gut vernetzt war, half er bei einer Gelegenheit mit schönen Menschen aus dem Nachtleben aus und gründete 1997 schließlich seine eigene Agentur. „Zu der Zeit hatte die Musikindustrie noch Geld, da wurden Minimum 100 000 Mark für ein Video ausgegeben.“ Die Fantastischen Vier, Freundeskreis, Massive Töne, sie alle ließen die Models für ihre Videos schließlich über Brody buchen. „Zu unseren besten Zeiten haben wir bis zu 30 Musikvideos im Jahr besetzt“, erinnert sich Brodbeck an das vordigitale Zeitalter, das sich längst vergangen anfühlt, dabei ist es gerade einmal 15 Jahre her.

Zeit, die Biege zu machen, bevor wir noch in unsere Schlehenschnäpse heulen. Nächste Station auf der Route „Feiern für Erwachsene“: die Caffe Bar am Tagblattturm. Um beim Thema Schlehe zu bleiben, ordert Brody zwei spanische Pacharan-Likörchen und lästert derweil herrlich über den derzeit angesagtesten Club der Stadt, das Kim Tim Jim. „Das ist ein Art-Director-Architekten-Club, in dem die Leute mit angezogener Handbremse feiern, weil sie zu sehr darauf achten müssen, gut auszusehen“, sagt der schönste taz-Abonnent der Stadt. Das Kim Tim Jim hat heute zu, also geht es am Hans-im-Glück-Brunnen weiter. Im Transit legt DJ Emilio auf, ein alter Weggefährte von Brody, es wird gebusselt und sich geherzt, der Ernährungsplan sieht mittlerweile Gin Tonic vor.

Wieso ist Brody noch in Stuttgart und nicht wie viele andere Kreative ausgewandert? „Stuttgart ist ein Heimspiel. Ich liebe die kurzen Wege in dieser Stadt. Klar muss man in Stuttgart früher aufstehen als die Platzhirsche in München oder Hamburg, dafür hab ich hier in meinem Mikrokosmos alles, was ich brauche. Moment kurz.“ Brody hastet um die Bar und drückt einer Schönheit seine Karte in die Hand. Sah die nicht zu normal aus? „Die Kunden wollen heute nicht mehr Big Jim und die Blondine, das klassische Katalogmodel gibt es nicht mehr“, sagt Brody auf dem Weg in die Schräglage. Riesenschlange vor dem Club, aber, Überraschung, Brody kennt die Türsteher, also weiter im Takt, Gin Tonic in die Hand, um die erschreckende Erkenntnis zu verdauen, dass man manchmal doch so alt ist, wie man sich fühlt. Der Altersdurchschnitt liegt bei Anfang 20. Schnell weg, kurz ins Schocken rein. War die Treppe hier schon immer so steil? Weiter in den Keller Klub. Richtig geraten, wir spielen wieder das „Welche Schlange, hallo Brody“-Spiel und stolpern die nächste Treppe hinunter. Ist das jetzt noch ein Interview oder schon betreutes Trinken? Mittlerweile ist es fast 5 Uhr. Brody will noch weiter ins Climax. Zeit, sich polnisch zu verabschieden. Damit die eigene Wahrnehmung nicht noch weiter in Unordnung gerät.

06:34 Uhr: Früher war der Rhythmus ein anderer

Auch andernorts ist die Welt morgens um sechs schon in Unordnung. Theo, ein Jahr alt, will endlich sein Fläschchen, Anna, vier Jahre, ihren Adventskalender aufmachen, die Katze, elf Jahre alt, raus. Ein morgengrausiges Gemaunze, das die Mama Stefanie Wiese locker wegsteckt. Sie weiß, was noch kommt. Einkaufen steht an diesem Samstag auf dem Programm. Irgendwann, wenn Annas Strumpfhose endlich so an der Ferse sitzt, dass sie aufhören kann zu heulen, und Theo fertig damit ist, Annas Lieblingsbuch bunt anzumalen, soll es losgehen. Zwei Stunden nach dem Aufstehen und nach etlichen Kämpfen mit und gegen Mütze, Schal und Handschuh ist es so weit: Theo klingelt beim Nachbarn, Anna sucht hübsche Blätter vor der Haustür, und Stefanie Wiese versucht, sich zu sammeln und das Haus zu verlassen. Wie? „Entnervt!“, ruft sie lachend.

Ein paar Liter Schweiß später steht sie auf dem Marienplatz im Stuttgarter Süden. „Praktisch hier“, sagt sie und deutet mit dem Kopf einmal rundherum: Bioladen, Supermarkt, Café, Drogerie, Kinder-Secondhandshop. Es gibt Menschen, die sagen, sie würden sich – mangels eigener – nur mit geliehenem Kind auf diesen neuen Hotspot in Stuttgart trauen: der Marienplatz, das Müttermekka. „Wer hätte gedacht, dass ich mal weiß, wie der Marienplatz morgens um 9 Uhr aussieht“, sagt die 37-Jährige, die Annas Bitten, endlich rüber zum Spielplatz am Rand der recht kahlen Fläche zu gehen, eisern ignoriert. Später, jetzt muss sich die Mama erst einmal dunkel daran erinnern, wie das alles früher war und wie sehr Partyspots wie die Theodor-Heuss-Straße oder auch die hier im Süden – das Galao zum Beispiel – aus dem Sichtfeld rutschen, wenn der Nachwuchs die Regie übernimmt. „Abends kenne ich die Stadt gar nicht mehr“, sagt Stefanie Wiese, die früher eine Nachteule war. Nachteule, auch so ein Wort, das so alt und aus der Zeit gefallen wirkt, wie sich die zweifache Mutter heute oft fühlt.

Das Galao würde ja abends mit Spitzenkonzerten locken, das Café Kaiserbau mit guten Drinks – „aber jetzt stehe ich halt um 9.30 Uhr mit anderen Müttern frierend auf dem Spielplatz“, erzählt Wiese, deren Morgenprogramm mit ihren Kids so sportlich ist, dass sie alles andere als Lust hat, sich jetzt noch so nebenbei die Nächte um die Ohren zu schlagen. „Früher hatte man einfach einen ganz anderen Rhythmus“, sagt sie schulterzuckend und passt auf, dass Theo nicht über die Sandhügel stolpert und der nun leere Buggy vor lauter Einkäufen nicht umkippt.

Die Mütter auf dem Spielplatz nicken sich stumm und wissend zu. Jede kennt das: Da liegt der Biosupermarkt, dort die Drogerie, dazwischen der Spielplatz – und plötzlich haben die Mütter Riesendistanzen zu überwinden, wo gar keine sind, umkrallen mit kalten Händen kippende Kinderwagen, schielen neidisch auf die hippen Studentinnen, die in aller Ruhe im Café nebenan ihre Latte schlürfen. „Dafür kann ich mir eine halbe Stunde Joggen schenken“, sagt Wiese, die zu den Menschen mit einem beneidenswerten Optimismus gehört und jetzt schnell weiter muss. Schließlich will Theo bald seine Ruhe und sein Schläfchen machen. Ihn schert es eh recht wenig, warum Mama immer wieder den Marienplatz aufsucht. Sie selbst hat da so eine Ahnung. Der auf den ersten Blick so unwirtlich wirkende Fleck ist das Gegenteil: Gleichgesinnte, Schicksalsgemeinschaften machen es sich hier gegenseitig schon recht kuschelig.

11:34 Uhr: Das kleine gallische Dorf im Gerberviertel

Bei Kalliopi Bamiatzi geht es heute auch recht kuschelig und sehr entspannt zu. Ein Kunde will Vitamintabletten, aber das war es auch schon. Die Apothekerin hat ihren weißen Kittel erst gar nicht angezogen. Es ist Samstag – und da verirren sich meist nur noch ein paar Touristen in ihre Apotheke in der Sophienstraße. Samstag ist Ausnahmetag. Am Samstag herrscht ungewohnte Ruhe: keine Bagger, keine Betonmischer, kein Presslufthammer. Auf der gigantischen Baustelle, auf die Bamiatzi von morgens bis abends schaut, wird ausnahmsweise nicht gearbeitet.

Wenn Bamiatzi unter der Woche ihre Apotheke aufschließt, herrscht im Gerberviertel schon Hochbetrieb. Krach, Matsch und Staub, Lastwagen und Verkehrschaos. Bamiatzi nimmt es gelassen. „Ich hab mich dran gewöhnt“, sagt sie, „die Baustelle gehört zu uns. Sie bringt auch etwas Gutes.“ Sie meint das Gerber, das neue Einkaufszentrum zwischen Paulinenbrücke und Sophienstraße. 2014 soll es eröffnet werden – und Schluss mit dem Baustellenterror sein.

Für das Gerber wurden Wohnungen geräumt, Häuser abgerissen, viele Geschäfte mussten aufgeben. „Es hat Tote gegeben“, sagt Bamiatzi und ist sicher, dass noch einige andere Kollegen den Ausnahmezustand im Viertel nicht überleben werden und dicht machen müssen. Auch sie hat lange gehadert mit der Runderneuerung des Gerberviertels, auch ihre alteingesessene Paulinen-Apotheke in der Tübinger Straße wurde vom Bagger plattgemacht.

Jetzt steht Bamiatzi ein paar Meter weiter um die Ecke hinterm Tresen – in einer Notunterkunft. Sie macht nur noch die Hälfte des Umsatzes, die Kundschaft von außerhalb findet sie oft nicht, aber immerhin sind ein paar neue Kunden dazugekommen: die Bauarbeiter von vis-à-vis.

Für Kalliopi Bamiatzi ist das Gerberviertel ein Stück Heimat. Deshalb wollte sie nicht tatenlos zuschauen, wie es vom Dorf zur anonymen Großstadt wird. Als die Investoren anrückten, bangte auch sie um ihre Existenz. Sie wollte nicht weg , wusste nicht wohin. „Ich bin immer störrischer geworden“, erzählt sie, „wir waren hier das kleine gallische Dorf, das Widerstand leistet.“ Die Apotheke war dabei das Hauptquartier der Prostbewegung.

Dort, wo sie stand, ist inzwischen eine Aussichtsplattform mit Blick auf die Baustelle. Bamiatzi macht heute mal etwas früher Feierabend, steigt die Stufen hoch, lässt den Blick über das neue Fundament streifen und ärgert sich schon wieder, dass aus dem letzten Rest Stadtmauer so wenig gemacht werden soll. Wie jeden Samstag dreht sie noch eine Runde im Viertel. „Die Kreativen kommen wieder zurück“, sagt sie euphorisch, überall eröffnen neue Geschäfte und Werkstätten. Jeder Laden gibt ihr Aufschwung und stärkt ihre Hoffnung, dass es mit dem Gerber einen Neuanfang im Viertel gibt: „Wenn es ein Solitär würde, wäre es eine Katastrophe“, sagt sie. Aber da das Gerber zu mehreren Seiten geöffnet werden soll und auch in das übrige Quartier investiert wird, ist sie nun doch optimistisch. „Das ist das Beste, was dem Viertel passieren konnte.“

Auf dem Weg ins Café Graf Eberhard ist Bamiatzi ständig am Winken, Grüßen und Schwatzen. Auch wenn überall Neues entsteht, geht es hier familiär zu. Letztlich ist das Gerberviertel immer noch ein Dorf. Eines, das noch viele charmant-verfallene Ecken hat, aber eben bald auch eines dieser schicken Shoppingcenter besitzen wird. Darin wird es selbstverständlich auch eine Apotheke geben: Bamiatzis neue Center-Apotheke. Bei aller Begeisterung muss sie sich noch an den Gedanken gewöhnen, eines Tages innen im Gerber zu residieren. „Aber“, sagt sie, „man kann trotzdem versuchen, es persönlich zu führen.“

14:34 Uhr: Aus dem Gewusel schnell zurück

Eine ganz persönliche Beziehung zu Stuttgart hat auch Roland Möhrle. Leuze, LVA, Kickers: das sind die Stichworte, die der gebürtige Rommelshäuser mit Stuttgart verbindet. Bei der Landesversicherungsanstalt in der Rotebühlstraße 133 hat er lange Jahre gearbeitet, der junge Remstäler kam jeden Tag mit der Bahn in die Stadt. Vom Hauptbahnhof ging er zu Fuß über die Königstraße zu seiner Arbeitsstelle. Ansonsten habe er aber nicht viel von Stuttgart gesehen, so der 72-Jährige: Die Einkaufsmöglichkeiten waren zwar besser als in dem kleinen Remstalort Rommelshausen. „Ansonsten aber war damals in Stuttgart, wenn die Geschäfte geschlossen hatten, nicht so viel los“, sagt der Pensionär.

Wie er jetzt an diesem Samstag um 12 Uhr auf dem Schlossplatz steht, kann man das nicht eben sagen. Die Shopper kommen in die Gänge, sie bevölkern die Königstraße – „Da sind früher noch die Straßenbahnen gefahren!“ – und tragen Einkaufstüten durch die Gegend. Das Shoppen sei nicht so seins und er sei auch kein Flaneur, sagt Roland Möhrle. Er nutzt das Angebot der Großstadt selektiv, zum Beispiel das Leuze, das er jeden Freitag besucht, oder die Kickers-Spiele auf der Waldau. „Ich frage mich, warum die Leute hier so herumhetzen“, sagt Roland Möhrle mit Blick auf das Menschenband, das sich die Königstraße entlangschiebt.

Ortswechsel, eine Stunde später: „Das ist meine Ecke“, sagt Ingrid Möhrle. Sie steht in der Gänsheidestraße, unweit des Heidehofgymnasiums. Hier ist sie zur Schule gegangen. Eine Pendlerin, aus Ruit, weil der Vater seine Tochter auf eine gute Schule schicken wollte. Ingrid Möhrle geht ein paar Meter, an der Georg-Elser-Staffel schaut sie auf die Stadt, die sonnenbeschienen unter ihr liegt. Wie ihr Mann Roland fährt sie selten zum Einkaufen nach Stuttgart. Auch sie hat ein geradezu funktionalistisches Verhältnis zur Stadt. Die Leute gehen ins Theater, zum Baden, wegen großer Veranstaltungen nach Stuttgart, sagt sie und macht es selbst nicht anders. „Die Mobilität hat zugenommen, von Rommelshausen sind es ja nur 15 Minuten in die Innenstadt“, sagt Ingrid Möhrle.

Nicht allen geht es so. „Für meine Kollegen von weiter weg ist Stuttgart die Wunderstadt“, erzählt Ingrid Möhrle. Sie selbst überhöht die Stadt nicht. Sie mag Stuttgart wegen der Gänsheide, des Leo-Vetter-Bads oder Gablenberg – Stätten ihrer Jugend. An diesem Samstagnachmittag spaziert sie die Stäffele runter, zur Markthalle. Möhrle erzählt von ihrer Hauswirtschaftslehrerin, die hier ihren Schülerinnen einst zeigte, was Brokkoli ist. So wenig brauchte es damals für ein bisschen Weltläufigkeit.

Aber: Stuttgart ist lebens-, auch besuchenswerter geworden, wie Ingrid Möhrle und ihr Mann Roland an fast jeder Ecke ihrer Tour durch die City betonen. Der Verkehr tobt nicht mehr in allen Gassen, das Kulturangebot ist größer, die Einkaufsmeile wird immer weiter verlängert. Was nicht heißt, dass es nicht noch anderes gäbe. Am Ende der Königstraße angekommen – es ist schon später Nachmittag –, erklärt Roland Möhrle: „Das ist mir zu wuselig. Eigentlich bin ich samstags viel lieber im Garten.“