Eine junge Iranerin bekommt kein Asyl in Deutschland, aber geht dennoch an die Universität und promoviert hier. Sie trotzt damit der rigiden Bürokratie. In unserer Reportage zum Thema Flüchtlinge erzählen wir ihre Geschichte.

Stuttgart - Ein einziges Mal hat sie die Regeln in Deutschland missachtet. Nasrin Ahmadi (Name geändert) wollte dieses Studium so sehr – weil es Freiheit bedeutete und Würde und weil es für einen jungen zielstrebigen Menschen logisch ist, nach dem Abitur zu studieren. Also ging sie eines Morgens an die Uni. Während ihr Vater draußen wartete und sich vor Aufregung eine Zigarette nach der anderen anzündete, bangte seine Tochter um ihre Zukunft. Vielleicht lag es an den grünen Kontaktlinsen, vielleicht an den kurzen Haaren, vielleicht hatte der Mann es einfach vergessen – jedenfalls fragte der Mitarbeiter im Studentensekretariat nicht nach ihrem Ausweis. Die Einschreibung war geschafft.

 

Heute ist Nasrin Ahmadi eine promovierte Wissenschaftlerin, eigentlich ein Vorbild für alle Flüchtlinge in Deutschland. Wenn sie dem Staat gehorcht hätte, wäre spätestens nach dem Abitur Schluss gewesen. Denn Ahmadi war die meiste Zeit ihres Lebens hier nur geduldet, jederzeit in der Gefahr, innerhalb von wenigen Monaten in den Iran abgeschoben zu werden.

Nasrin Ahmadi kam als junges Mädchen nach Deutschland. Sie lernte fleißig und wechselte von der Hauptschule aufs Gymnasium. Nach dem Abitur folgte die Universität. Der Doktortitel steht seit wenigen Tagen in ihrer E-Mail-Signatur. Es ist ein beeindruckender Lebenslauf. Viele Akademiker mit ausländischen Wurzeln erreichen ein solches Ziel. Den wenigsten allerdings sind auf ihren Weg so viel Steine gelegt worden wie der Iranerin. Denn in ihrem Duldungsbescheid hieß es: „Die Aufnahme eines Studiums ist nicht erlaubt.“ Die junge Frau kam 1996 mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester über die Türkei nach Deutschland. Der Vater hatte in Zeitungsartikeln das iranische Regime kritisiert. Nach Verhaftung und Folter entschied er, dass seine Familie im Iran nicht länger sicher sei. „Ich dachte, wir verreisen“, erzählt Nasrin Ahmadi. Doch statt eines Hotels erwartete das Mädchen ein Aufnahmelager in der Nähe von Frankfurt. Zeit, um sich einzugewöhnen, um den Schock über die plötzliche Flucht zu verarbeiten, blieb nicht. Nach drei Tagen ging es weiter in das nächste Lager.

Das Aufnahmelager war ein Schock

Zweimal wurde die Familie weitergeschickt, bis sie in einem Heim in Nordrhein-Westfalen landete. „Dieses grausame Haus gibt es heute nicht mehr“, erzählt die junge Frau. Viereinhalb Jahre hat die Familie dort gelebt, auf 15 Quadratmetern. Zwei Etagenbetten aus Metall, kein Schrank, keine Stühle, nichts. Wenn Besuch kam, mussten sie auf dem Boden sitzen, der mit Plastiktüten notdürftig abgedeckt wurde.

Ein herber Abstieg für die Familie, die im Iran zur gehobenen Mittelschicht gehört hatte. Der Vater war Textilunternehmer gewesen. Ein stolzer Mann, der Freunde und Verwandte mit Geld unterstützte. In Deutschland musste er, ohne Arbeitserlaubnis, zum Sozialamt gehen. Der Asylantrag wurde mehrfach abgelehnt, die Anwaltskosten verschlangen die Ersparnisse. Bei der Ausländerbehörde versuchte man, die Flüchtlinge zu überreden, in den Iran zurückzukehren. „Man fühlt sich ausgeliefert und unerwünscht“, sagt Nasrin Ahmadi. Doch die Familie blieb. Dass sie im Iran tatsächlich bedroht wären, daran gibt es für die Iranerin keinen Zweifel. Zu gut erinnert sie sich an die Nächte, als ihr Vater die Zimmertür im Aufnahmelager mit Stühlen verbarrikadierte und im Sitzen davor einschlief. Ein Gefühl der Sicherheit kennt die junge Frau nicht. Zu der Furcht vor den iranischen Verfolgern ist die Angst vor den deutschen Behörden hinzugekommen. Bis heute fürchtet sie, dass man ihr ihre Aufenthaltserlaubnis wieder nehmen könnte, auch deshalb will sie anonym bleiben.

13 Jahre lang war Nasrin Ahmadi in Deutschland geduldet. Ein Leben in der Warteschleife, ohne Aufenthaltsrecht, die Abschiebung ist nur ausgesetzt. Ein Schicksal, das die Iranerin laut Angelika von Loeper, der Vorsitzenden des Flüchtlingsrats Baden-Württemberg, mit vielen Flüchtlingen teilt. Rund 94 500 Menschen hätten 2013 mit einer amtlichen Duldung in Deutschland gelebt. 35 000 Menschen leben seit sechs Jahren oder länger hier; 10 470 Menschen sogar schon seit mehr als 15 Jahren. Die Bedingungen hätten sich in jüngster Zeit ein wenig verbessert. Die Geduldeten dürften heute zum Teil arbeiten oder eine Ausbildung machen. Problematisch sei, dass die Duldung immer kurz befristet sei, mal drei Monate, mal ein halbes Jahr. Da sei es schwer, Arbeit zu finden.

In Nasrin Ahmadis Fall war der Schulbesuch erlaubt, das Studium nicht. Doch die Iranerin hielt sich nicht daran. Und das, obwohl sie von sich selbst sagt, dass sie nie gegen die Regeln verstoße. „Ich zahle meine Steuern, ich trenne meinen Müll und ich fahre nie bei Rot über die Ampel“, sagt sie. Seit sie sich für ihr Studium eingeschrieben hat, ist die Furcht aufzufliegen ihr ständiger Begleiter. „Jedes Mal, wenn ein Brief von der Uni kam, hatte ich Angst“, erzählt sie. Ihre Schwester erinnert sich, wie die sonst so taffe Nasrin eines Tages weinend in der Küche saß. „Sie hatte Angst, dass die Ausländerbehörde dafür sorgt, dass sie exmatrikuliert wird“, erzählt die Schwester.

Die Familie lebte von der Stütze. Die Lebensmittelgutscheine tauschten sie in einem türkischen Geschäft gegen Bargeld. 20 Prozent behielt der Ladenbesitzer jedes Mal für sich. „500 Euro hatten wir für die ganze Familie, darunter eine Tochter, die studiert“, erzählt Nasrin Ahmadi. Ein Mittagessen in der Mensa oder ein Kneipenbesuch mit den Kommilitonen waren nicht drin. Immer musste sie Ausreden erfinden.

Die Prüfungsordnung sah ein dreimonatiges Praktikum vor. Spätestens im Vorstellungsgespräch wäre die fehlende Arbeitserlaubnis aufgefallen. Nasrin Ahmadi vertraute sich einem Dozenten an. Er setzte sich für sie ein, sorgte dafür, dass sie auch ohne Praktikum weiter studieren konnte. Er bot ihr ein Tutorium an. Zwei Semester lang unterrichtete sie andere Studenten, ohne Lohn, denn arbeiten durfte sie nicht. Erst 2009 gelang es Nasrin Ahmadi, eine befristete Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zu bekommen. Die Eltern hatten bereits 2007 einen Aufenthaltstitel erhalten, doch die Kinder, inzwischen zwei junge Frauen, sollten abgeschoben werden, weil sie im Iran nichts zu befürchten hätten. Die Vorsitzende des Flüchtlingsrats, Angelika von Loeper, vermutet, dass die Familie unter die bundesgesetzliche Bleiberechtsregelung von 2007 gefallen ist. Wer zum Stichtag 1. Juli 2007 seit mindestens acht, Familien mit Kindern seit sechs Jahren geduldet war, seinen Lebensunterhalt selbstständig bestritt, ein gewisses Deutschkurs-Level erreicht hatte und noch weitere Voraussetzungen erfüllte, durfte bleiben – befristet. Jeder, der diesen Stichtag um nur einen Tag verpasste, ging leer aus, kritisiert die Vorsitzende des Flüchtlingsrats. „Eine gesetzliche, vom Stichtag unabhängige Bleiberechtsregelung ist dringend erforderlich“, betont sie. Die große Koalition wollte sich darum kümmern. Doch der bislang vorliegende Gesetzentwurf erfülle die Erwartungen nicht.

13 Jahre Duldung zählen nicht

Für Nasrin Ahmadi tat sich 2010 die Chance auf, unbefristet hier zu bleiben. Sie heiratete einen Deutschen. Nach einer gewissen Frist wäre auch seine Ehefrau eingebürgert worden. Im Oktober 2012 reichte sie den Antrag ein, im Dezember 2012 trennte sich das Paar – zu früh. Sie hätte die Beziehung aufrechterhalten können, doch das kam für die Iranerin nicht in Frage.

Bei der Ausländerbehörde erklärte man ihr, dass sie sich nun noch ein wenig gedulden müsse. Erst wenn sie acht Jahre in Deutschland lebe, könne sie eingebürgert werden. Die 13 Jahre, in denen sie geduldet war, zählten nicht. Für die Behörden beginnt ihr deutsches Leben erst 2009. Die Frist könne aber auf sieben Jahre verkürzt werden, wenn sie einen Integrationskurs besuche. Nasrin Ahmadi war entsetzt. Sie sprach fließend Deutsch, arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einer deutschen Hochschule und war gerade dabei, ihre Doktorarbeit zu schreiben. Sie fühlte sich mehr als gut integriert und lehnte ab. Die deutsche Staatsangehörigkeit kann Nasrin Ahmadi also erst 2017 erhalten, mehr als 20 Jahre, nachdem sie in Deutschland angekommen ist.

Seit Kurzem besitzt sie eine Niederlassungserlaubnis. Sie darf unbefristet in Deutschland bleiben und arbeiten, der deutsche Pass würde ihr also vor allem das Reisen erleichtern. Sie hat eine neue Sachbearbeiterin bei der Ausländerbehörde. „Eine sehr nette Frau“, wie sie sagt. Und diese hat ein Schlupfloch gefunden. Nasrin Ahmadi ist jetzt eine Bildungsausländerin: Wer zum Studium nach Deutschland kommt, hier seinen Abschluss macht und bleiben will, ist willkommen. Ob sie die Einbürgerung 2017 noch will, weiß die junge Frau inzwischen nicht mehr. Bei der Fußball-WM hat sie nicht mehr die deutsche Mannschaft angefeuert. Ihr Verhältnis zur Bundesrepublik hat sich verändert. Nasrin Ahmadi wünscht sich Anerkennung, keine Almosen.