Der italienische Autor Roberto Saviano hat in „Gomorrha“ über die Camorra geschrieben. Jetzt folgt sein neues Buch „Der Kampf geht weiter“.

Stuttgart - Seit sechs Jahren hat Roberto Saviano sich nicht mehr spontan ein Eis gekauft. Oder sich in den Biergarten gesetzt. Seit sechs Jahren ist er nicht mehr allein auf seiner Vespa durch die Stadt gefahren, einfach ins Kino gegangen oder auch nur in den Supermarkt. Er lebt unter Personenschutz, ohne seine Leibwächter darf er keinen Schritt tun. Alle paar Tage zieht er um. Meistens schläft er in irgendeiner Polizeikaserne. Kein Mensch kann sich vorstellen, was das bedeutet.

 

Nach seinem 2006 zunächst in Italien, später weltweit erschienenen Bestseller „Gomorrha“, in dem er die Machenschaften der neapolitanischen Camorra aufdeckt und Namen nennt, hat Roberto Saviano Morddrohungen bekommen. Seither steht er auf der Todesliste der Mafia, was eine normale Existenz unmöglich macht.

Die Öffentlichkeit schützt ihn mehr als die Polizei

Wie hält man das aus? „Gar nicht“, sagt Roberto Saviano, und so sieht er auch aus. Er wirkt müde und blass, als er vor einigen Tagen die Theaterhaus-Bühne in Stuttgart betritt. Fast hätte die Lesung aus seinem neuen Buch ausfallen müssen, der Autor hatte sich den Magen verdorben. Doch jetzt steht er da, winkt kurz, streicht sich um den kahl rasierten Kopf und setzt sich. Er will es durchziehen, schließlich hat er so etwas wie eine Mission, er will von einem kaputten Land erzählen, und dazu braucht er die Öffentlichkeit. Saviano sieht nicht aus wie der strahlende Popstar, den er in früheren Auftritten oft gegeben hat. Das Publikum feiert ihn trotzdem wie einen. Langer, lauter Applaus. Dann berichtet er, sehr ernst und routiniert, von seinem Alltag, der geprägt sei von Langweile. Alles müsse drei Tage vorher geplant werden, permanent seien Polizisten in seiner Nähe. Sein Leben verläuft nach Plan, sich gehen lassen – das gibt es nicht mehr. Savianos Körpersprache spricht Bände. Da vorne sitzt ein trotz all seiner Erfolge zutiefst unglücklicher, einsamer 32-jähriger Mann. Einer, der sich, wie er sagt, immer öfter fragt, warum er dieses verdammte Buch geschrieben hat.

Die Begegnung mit Roberto Saviano erschüttert. Seine Geschichten aus der Unterwelt, auch die, aber vor allem die Art, wie er sie erzählt. Leise, abgeklärt, zermürbt, ja fast resigniert. Dieser Abend wirkt nach. Dass Saviano so schlecht aussieht, liegt sicher nicht nur an seinem Magen. Dafür sagt er in diesen Tagen zu oft, wie beschwerlich sein Leben geworden ist.

Drogen, Müll, Designerklamotten: die Camorra mischt mit

Roberto Saviano wurde 1979 in Casal di Principe bei Neapel geboren, einer Hochburg der Camorra. Der Sohn eines Arztes und einer Lehrerin studierte Philosophie und arbeitete als Journalist. Schnell fand er sein Lebensthema: die Mafia. Mit Mitte zwanzig veröffentlichte er den Reportageroman „Gomorrha“, sein Schicksalsbuch. Er enthüllte die mafiösen Strukturen in seiner Heimat, erklärte den Drogenhandel und das illegale Geschäft mit Giftmüll, Zement und italienischen Designerklamotten. „Gomorrha“ machte ihn schlagartig bekannt, es wurde in Dutzende von Sprachen übersetzt. Das ist ein Problem, denn die Mafia fürchtet Aufmerksamkeit.

Für den Autor ist das Buch Segen und Fluch, und nicht nur sein Leben veränderte sich damit radikal. Seine Mutter und sein Bruder haben andere Namen angenommen und sind untergetaucht. Jetzt stellen Journalisten ihm die Fragen – immer dieselben und am liebsten die nach der Angst. Wie geht er mit Angst um? Hat er überhaupt Angst? Nach so langer Zeit komme ihm die reale Bedrohung abstrakt vor, sagt Saviano. Die Furcht, erschossen zu werden, sei weitaus kleiner als die Vorstellung, dass das alles so weitergehe. „Das Schlimmste ist das Bewusstsein, nie mehr aus dieser Lage herauszukommen.“ Diese Lage heißt nicht nur, kein Zuhause und keine Freiheit mehr zu haben, sondern auch, allen erst einmal zu misstrauen. Und wie soll sich ein junger Mann unter diesen Umständen je verlieben? Auch seine Arbeit wird erschwert, denn er kann nicht mehr im Milieu recherchieren, nicht mehr rumschnüffeln. Er ist zu bekannt. Seine Informationen bezieht er heute über die Carabinieri.

Reichen die Kräfte, um das durchzustehen? „Seit sechs Jahren frage ich mich das“, sagt er. Warum steigt er nicht aus? Fängt von vorn an in Kanada oder Thailand? Das hieße aufgeben. Und aufhören, von einem besseren Italien und letztlich einer besseren Welt zu träumen. Savianos Anfang Februar erschienenes Buch trägt den Titel „Der Kampf geht weiter“. Es basiert auf der Fernsehsendung „Vieni via con me“, einer Reihe von Monologen, die sensationelle Einschaltquoten von elf Millionen Zuschauern hatten, aber nach vier Folgen aus scheinheiligen Gründen eingestellt wurden. Es geht um die kalabresische ’Ndrangheta, die längst den Norden unterwandert hat und ganze Wirtschaftszweige kontrolliert, um die verblüffend strengen Hierarchien innerhalb der Mafia und um mächtige Bosse, die Millionen kassieren, aber jahrzehntelang im feuchten Bunker leben. „Dieses tiefe Unglücklichsein, das haben die mit mir gemeinsam“, sagt Roberto Saviano. Er spricht über die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen in Neapels berüchtigtem Stadtteil Secondigliano. Deren einzige Hoffnungen ruhen im organisierten Verbrechen, denn ehrliche Arbeit wird nicht belohnt, bei der Mafia dagegen kann was werden, wer sich anstrengt.

Deutschland ist der ideale Nährboden für Geldwäsche

Und Saviano spricht auch über Deutschland, das sich vom Massaker 2007 in Duisburg zwar kurz wachrütteln ließ, aber noch immer idealer Nährboden etwa für Geldwäsche ist. „Wo es keine Morde gibt, herrscht keine Angst“, sagt Saviano. Was also tun? Er fordert europaweit einheitliche Gesetze gegen Geldwäsche und Korruption. Er selbst will weiter von den Zuständen in seinem geliebten Italien berichten, denn „eine Erzählung wirkt ansteckend wie ein Virus“.

Am Ende des Gesprächs in Stuttgart stellt der Moderator eine provokante Frage: „Die Mafia bietet Sicherheit, Arbeit, Aufstiegschancen – was also spricht dagegen?“ Roberto Saviano lacht, zum ersten Mal an diesem Abend. „Es ist kein anständiges Leben.“ Wieder langer, lauter Applaus. Er bedankt sich für die Solidarität, für so viel Zuspruch. Vermutlich schöpft er daraus die Kraft weiterzumachen.

Der Kampf gegen die Mafia

Bücher Auf Deutsch sind von Saviano folgende Reportagen und Erzählungen erschienen: „Gomorrha. Reise ins Reich der Camorra“, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 368 Seiten, 9,90 Euro; „Das Gegenteil von Tod“, Carl Hanser Verlag, München, 72 Seiten, 10 Euro; „Die Schönheit und die Hölle. Texte 2004–2009“ Suhrkamp Verlag, Berlin, 302 Seiten, 19,90 Euro; „Der Kampf geht weiter. Widerstand gegen Mafia und Korruption“. Hanser, 175 Seiten, 16,90 Euro.

Film 2008 hat der italienische Regisseur Matteo Garrone Roberto Savianos Bestseller „Gomorrha“ fürs Kino verfilmt. In Cannes gewann der Film den Großen Preis der Jury. cle