Selbstredend bleibt "die offenkundig willfährige Journaille" nicht ungeschoren, wobei Steinfest darauf verzichtet, die Intelligenz seiner Leser mit alles erklärenden Verschwörungstheorien zu beleidigen, sondern es bei der einfachen Beschimpfung belässt, den Zeitungen sei es angesichts der Massenproteste unmöglich geworden, "die Wahrheit zu verschleiern und ihre Fotoapparate immer dort aufzustellen, wo gerade niemand stand".

Steinfest präsentiert sich wienerisch wie selten zuvor


Das ist allerdings nichts, verglichen mit den Tiraden auf den Oberbürgermeister ("unglücklich, hier leben zu müssen"), den sozialdemokratischen Projektkoordinator, "der auf Fotos gleich einem humanoiden Geschenkkorb posierte", und vor allem den aus seiner Eislauftraineraffäre so wundersam unbeschadet hervorgegangenen Finanzbürgermeister, dessen "ewiges Bubengesicht" sich durch eine "Weichheit und Schwammigkeit der Züge" auszeichnet, "in welcher der Ruf nach Männlichkeit so fundamental wie unerfüllbar sich streckte, gleich dem Schrei nach Liebe, der ungehört verhallt".

All diese Protagonisten sind unschwer wiedererkennbar (wie auch das eine oder andere Objekt Steinfest’scher Geneigtheit). Der einzige aber, der beim Namen genannt wird, ist ulkigerweise der verstorbene Bildhauer Otto-Herbert Hajek, dessen "banal bunte Kunst-am-Bau-Stelen (...) überall in Stuttgart herumstanden und die Stadt verschandelten".

Ist es schon eine Gedenkplakette für Thomas Bernhard, wenn diese Sorte gedanklich und verbal ausgefeilter Empörungsbereitschaft sich die vorknöpft, die der Bevölkerung mit Verdummungsparolen wie "Das neue Herz Europas" oder gar "Oben ohne" auf die Nerven gehen? Oder ist es einfach allgemein österreichische Verunglimpfungslust?

Jedenfalls hat Steinfest selten so wienerisch gewirkt wie in diesem Stuttgart-Buch. Also verkneift er sich auch ein paar scharfe Skizzen der "Obenbleiben"-Fraktion nicht. Da taucht beim Protesttraining ein Aktivist "vom Typ mäusehafter Banklehrling" auf, eine "adrett frisierte und brav bebrillte Bubenerscheinung", die "den revolutionären Marquis mit dieser Körperhaltung eines jovialen Anführers" gibt, und verschwiegen wird nicht, dass unter den Demonstranten vor der Villa Reitzenstein "fette, hässliche Weiber" mit vielen Ansteckern sind.

Das Buch endet vor dem 30. September


Insgesamt aber ist in jedem Augenblick klar, wo die Sympathien des Autors liegen. Zwar stammt der Mann, der einen Mordanschlag mit Sturmgewehr plant, um die Mächtigen Mores beziehungsweise die Angst neu zu lehren, aus dem Kreis der Bahnhofsschützer, doch zu keinem Augenblick ist diese Figur in ihrer kalten Wut so sinister wie Professor Fabian, ein alter Strippenzieher hinter dem Projekt, oder der junge Assistent des OB mit dem sprechenden Namen Palatin. Und die drei sind– in bewährter Steinfest-Manier – so fern jeder Alltagswahrscheinlichkeit wie alle handelnden Personen: die erzengelhafte Personenschützerin Kingsley, Wolf Mach, der österreichische Archäologe mit dem Akrobatenherzen, oder das, worum die Handlung sich am Ende dreht, der Schlossgarten-Mechanismus.

Diese antike Rechenmaschine im Erdboden unter dem Planetarium ist das, was Steinfest, hübsch selbstreferentiell, von zwei Figuren in diesem etwas zwittrigen Romangebilde aus Strafpredigt und fantastischer Kolportage als "Deus ex Machina" diskutieren lässt. Das Maschinenwesen mit dem rätselhaften Beharrungsvermögen verkörpert die Hoffnung, die im Schlossgarten mit seinem sommerlichen Bürgertreiben vergraben liegt. Und im Geschick dieses Artefakts, das vielleicht gar keins ist, spiegelt sich das Ende des friedlichen Protestsommers 2010. "Wo die Löwen weinen" endet vor dem 30. September.

Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen. Kriminalroman. Theiss Verlag, Stuttgart. 280 Seiten, 19,90 Euro. Der Autor stellt sein Buch am 2. März im Literaturhaus Stuttgart vor.