Viele Dinge die auf Auktionsplattformen wie Ebay veräußert werden, kommen aus lang vergangenen Zeiten. Der StZ-Kolumnist Peter Glaser betreibt damit eine Art Heimatkunde, wenn er sich Postkarten aus der Kaiserzeit oder ein altes Puzzle anschaut.

Stuttgart - Man kann auf Auktionsplattformen wunderbare Dinge bekommen, die nichts kosten. Es ist ein eigenartiger Luxus, ähnlich wie wenn man ohne die Absicht etwas zu kaufen durch ein Großkaufhaus flaniert. Der fortwährende Strom an Dingen, vom Zufall durchmischt, lässt sich mit Suchwerkzeugen in feine Strömungen zerteilen. Ich betreibe damit Heimatkunde.

 

Immer wieder stoße ich auf Dinge, die ich noch nicht kannte – und es genügt mir, sie zu sehen. Sie haben damit ihren Zweck erfüllt, ich muss sie nicht haben. Eine Postkarte aus der Kaiserzeit, auf der eine Brücke in meiner Geburtsstadt Graz zu sehen ist, von der ich noch nie gehört hatte. Der Kofferaufkleber eines alten Hotels. Puzzleteile eines Puzzles, das nie auch nur annähernd vollständig sein wird. Ebay bringt das Unterbewusstsein der Geschichte nach oben. Bruchstücke, Nippes, verstreute Objekte – gelebte Dinge, die Dank dieser vernetzten Datensortiereinrichtung nicht mehr im Treibsand der Zeit versinken. Sie werden fotografiert, beschrieben und diesem riesigen, dynamischen Sammelalbum hinzugefügt. Es ist eine Art des Zugangs zur Vergangenheit, wie ihn mir keine Schule vermittelt hat. Auch die geordneten Sammlungen von Museen sind etwas anderes. Es ist eine gewaltige, vielstimmige Sinfonie der Erinnerungen, wie im „Echolot”, dem Jahrhundertwerk des Schriftstellers Walter Kempowski. Aus Kleinkram, Briefen, Tagebüchern, Zeitungsschnipseln, Stundenplänen spannt sich auch dort ein weitreichendes Netz auf und lässt Historie stückweise so nahe herankommen, dass man sie förmlich berühren kann.

Eigentlich vorgesehen ist eine Auktionsplattform ja als Umschlagplatz einer modernen, nachhaltigen Ökonomie. Millionen Dinge vergammeln nun nicht mehr in Kellern und Garagen, sondern werden wieder dem Wirtschaftskreislauf zugeführt oder erfreuen Sammlerherzen. Im Gegensatz zum unberechenbaren Jagdglück auf Flohmärkten kann man in der fließenden Datenbank zwar zielgerichtet auf die Objektpirsch gehen. Der Zufall spielt aber immer noch eine bedeutende Rolle. Wer findet wann was auf welchem Dachboden und stellt es bei Ebay ein? Wer schaut wann wonach? Die angebotenen Dinge haben eine Halbwertszeit entlang der Auktionsdauer. Dinge verschwinden, andere tauchen auf. Sie ergeben ein Webmuster, das sich ständig verändert.

Neulich habe ich einem Kulturwissenschaftler gezeigt, was ich da betreibe, und ich bin sicher nicht der einzige, der in die Ozeane aus Online-Objekten taucht, nicht um etwas zu erwerben, sondern um etwas zu erfahren. „Eigensinn” nennen das die Nachfolgedisziplinen der Volkskunde. Ich zeigte ihm das Auktionsfoto einer alten Postkarte vom Südbahnhotel am Semmering, einem alten Luftkurort in den Alpen. In den Zwanzigerjahren war der Semmering das Nizza der Alpen. Josephine Baker fuhr Schlitten, Heinz Rühmann feierte seine Hochzeitsnacht im Grandhotel Panhans. Nebenan, in einer hölzernen Villa, war einer meiner Ururgroßväter als Hausmeister tätig. Die Villa gehörte der Kaiserin Elisabeth und immer, wenn es hieß: die Kaiserin kommt!, machte der Ururgroßvater sich auf den Weg durch den Park und legte Kissen auf die Parkbänke.

Eine kleine Reise, angestoßen von einer Postkarte. Dann finde ich den alten Prospekt einer Reifenfirma – mit den Autorennen um den Semmering-Bergkönig, und weiter geht’s. Das ist eine Art zu reisen, die jeder kennt, der online unterwegs ist. Man fährt und hat dann was erfahren.