Fußgänger teilen sich den Gehweg mit parkenden Autos, Verkehrsschildern und Auslegware.

S-West - Friedrich Müller muss häufig Umwege fahren, brenzlige Situationen erlebt er öfter. Als er die Ludwigstraße überqueren will, erkennt er, dass der Bordstein auf der anderen Seite zu hoch ist. Während alle anderen Teilnehmer des Spaziergangs weiter laufen, muss er in seinem Rollstuhl mitten auf der Straße in die entgegengesetzte Richtung fahren, bis er eine Stelle findet, die er mit seinem Rollstuhl passieren kann. Wenig später ist er an der Schlossstraße gezwungen, rückwärts den Bordstein runterzufahren, um das Gleichgewicht zu halten. Bis er seinen Rollstuhl wieder gedreht hat, springt die Ampel für die Autofahrer auf grün. Friedrich Müller kehrt um. „Ich muss leider oft im Quadrat fahren, bis ich über die Straße komme“, sagt der Vorsitzende des Zentrums für selbstbestimmtes Leben. Die anderen Spaziergänger sind entsetzt.

 

Der Rundgang durch den Westen gehört zu einem vom Bund geförderten Projekt der Bürgerbeteiligung. Stuttgart hat sich für das Thema Fußgänger entschieden und arbeitet mit der international aktiven Organisation Walk 21 zusammen. Als Vertreterin der Organisation ist die Expertin Bronwen Thornton aus England angereist, um die Spaziergänge zu begleiten. Sie notiert die Anregungen und Kritik der Teilnehmer und weist selbst auf Stolperfallen hin. Alle Erkenntnisse fließen in einen Bericht, der auch dem Bezirksbeirat noch vorgelegt wird.

Komfortabel ist die Schwabstraße für Fußgänger nicht

Die Route im Westen führt von der Rentenversicherung an der Rotebühlstraße die Schwabstraße entlang bis zum Bismarckplatz. Von dort geht es durch die Elisabethenanlage bis zur Schloss-/Johannesstraße. Die erste Hürde muss die Gruppe gleich zu Beginn nehmen. Auf Höhe der Rentenversicherung gibt es an der Rotebühlstraße hinüber zum Rewe keine Fußgängerampel. Die Unterführung zur S-Bahn-Haltestelle hilft nicht, denn es gibt nur Treppen auf der einen Seite und Rolltreppen, die meistens nicht funktionieren, auf der anderen. Für Friedrich Müller und auch für Ingrid Bechtel, die eine Sehkraft von drei Prozent hat, ist dieser Weg nicht begehbar. Für andere Fußgänger zwar schon, komfortabel ist es aber nicht. „Dort sollte eine Ampel hin“, meint Thornton. Oder die Geschwindigkeit müsse reduziert werden. Dass beides nicht der Fall ist, liegt vermutlich daran, dass es den Verkehr behindern würde.

„Fußgänger machen ein Drittel der Verkehrsteilnehmer aus, aber es wird am wenigsten für sie getan“, sagt Wolfgang Forderer, der Leiter der städtischen Abteilung für Mobilität und zuständig für das Projekt „Besser zu Fuß unterwegs in Stuttgart“. Fußgänger müssten, sagt Forderer, die meisten Einschränkungen in Kauf nehmen. Bronwen Thornton begründet dies damit, dass Fußgänger flexibel seien. „Sie sind anpassungsfähig, quetschen sich bei Engstellen durch, weichen aus oder können Umwege laufen.“ Diese Flexibilität werde ausgenutzt. Dies fällt auch den Teilnehmern bei einem bewussten Gang durch den Stadtbezirk auf.

Freie Räume werden mit Schildern und Werbung zugestellt

Endlich vor dem Rewe angekommen, ist der Gehweg ungewöhnlich breit. Doch der freie Raum ist von Werbetafeln und einem Bushaltestellenschild, das mitten auf dem Trottoir steht, zugestellt. „Für mich sind Pfosten, Schilder und Werbetafeln ein großes Problem“, sagt Bechtel, die gerade lernt, mit dem Blindenstock allein zurechtzukommen. Für alle anderen ist es ein aufgezwungener Slalomlauf.

„Wir möchten mit diesem Projekt sensibilisieren und den Leuten ins Bewusstsein rufen, dass für Fußgänger mehr gemacht werden muss“, sagt Forderer. Vom Rundgang durch den Westen ist er überrascht – wenn auch negativ. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele Schwachstellen gibt.“ Eine davon will er nicht auf die lange Bank schieben. „Ich werde das Tiefbauamt umgehend auf den Bordstein an der Ludwigstraße hinweisen“, sagt er. „Das ist kein tragbarer Zustand.“

In Beton gegossene Geschichte

Um sich die Fußgängerfeindlichkeit des Stadtzentrums zu erlaufen, reichen 150 Meter Spaziergang.

S-Mitte - Der Spaziergang dauert schon eine Weile, aber das Rathaus ist noch immer in Sicht. Auf dem Weg ist eben vieles zu besprechen. Bronwen Thornton, eigens aus England angereiste Expertin fürs Fußgängertum, erklärt einer etwa 25-köpfigen Gruppe, was an der Hauptstätter Straße für Fußgänger unzumutbar ist. Zwar verhallen die Worte im Motorenlärm der Hauptverkehrsachse, aber damit ist ja schon genug gesagt.

Fußgängerfeindlichkeit zu dokumentieren, ist Ziel dieses Rundgangs. Start war eben am Rathaus. Dies ist schon der dritte Halt auf rund 100 Metern Weg. Beim nächsten, einem Zwangsstopp auf einer Fußgängerinsel wegen Rotlicht, wird eigentlich genug gesagt sein für den ganzen Rundgang. Die Gruppe steckt so dicht beieinander wie Zigaretten in einer verschlossenen Schachtel. Der Platz reicht trotzdem nicht. Ein paar müssen auf den erhöhten Grünstreifen klettern. Das Blech braust im Abstand einer Unterarmlänge vorbei.

Der erste Halt waren die Rampen auf den Stufen, die zum Marktplatz führen. Sie sind unzumutbar steil für Mütter mit Kinderwagen, erst recht für Rollstuhlfahrer. Als sie verlegt wurden, galten sie als vorübergehender Notbehelf. Das war vor zehn Jahren. Der zweite Halt war 20 Meter weiter einer der Wegweiser des sogenannten Fußgängerleitsystems – rechts entlang zum Gerberviertel, geradeaus zur Leonhardskirche. Vor 14 Jahren wurden die Wegweiser aufgestellt und viel gelobt. Leider gibt es kein Geld für Reparaturen.

Das Duo des Breuninger- und des Züblin-Parkhauses erzählt seine in Beton gegossene Geschichte darüber, was den Stadtplanern der Vergangenheit wichtig war. Wenige Schritte weiter wird zwar demnächst eine neue Fußgängerzone eröffnet – die Leonhardstraße wird gesperrt – aber damit soll eher ein anderer Verkehr als der Straßenverkehr gebremst werden. Zur Kreuzung am Wilhelmsplatz muss wiederum niemand eine Expertin befragen. Hier droht Fußgängern sogar auf dem Gehweg Gefahr. Zickzacklinien markieren eine Route für Radfahrer. Hier rumpeln die zwei Schwächsten Glieder des Straßenverkehrs aneinander. Erwähnenswert ist aber nicht das Offensichtliche, sondern das Hintergründige. Den Umbau zum Kreisverkehr samt mehr Grün und breiterer Gehwege hat der Gemeinderat beschlossen – im Jahr 2007. Das Geld dafür floss aber nie. Stets schien anderes wichtiger.

Hingegen soll nach Jahrzehnten der Diskussion der Plan verwirklicht werden, die Kreuzung am Tagblatt-Turm fußgängerfreundlich umzubauen und aufzuhübschen. Einen Steinwurf weiter endet der Rundgang mit Stuttgarts Leuchtturmprojekt zum Wohle der Fußgänger: dem sogenannten Shared Space der Tübinger Straße. Hier gilt Tempo 20. Hier haben Autofahrer einmal nicht Vorrang. Allerdins: „Das ist typisch“, sagt Thornton. Acht Verkehrsschilder reihen sich am Eingang der Straße auf, besser formuliert: am Ausgang. Allesamt weisen Autofahrer darauf hin, dass hier die Lasten enden, die ihnen auf den vorigen 150 Metern auferlegt waren.

Kein einziges Schild erklärt Fußgängern, dass hier ihr Hoheitsgebiet beginnt. eck