Samuel Pisar war Häftling im Leonberger Konzentrationslager. Er beriet John F. Kennedy. Er ist Botschafter der Unesco. Nun wird Pisar 85 Jahre alt. Ein Porträt.

Leonberg/Berlin - Wie kam ich auf Samuel Pisar? Vor vier Jahren führte ich ein Seminar mit Studenten der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg am ehemaligen KZ in Leonberg durch. Der Religionspädagoge Eberhard Röhm verteilte an alle Anwesenden Karteikarten mit den Namen der ehemaligen Häftlinge. Ich erhielt die von Pisar. Daraufhin las ich sein Buch „Of Blood and Hope“, und in mir wuchs der Wunsch, Samuel Pisar persönlich kennenzulernen.

 

Ostern 2013 durfte ich ihn in seiner Wahlheimat Paris besuchen. Ich zeigte ihm Fotos von der Karteikarte und seinem Namen an der Wand vor dem Leonberger KZ-Tunnel. Im November lud er mich dann zu einem Frühstücksgespräch in ein Berliner Hotel ein. Nun will ich, dass möglichst viele Menschen erfahren, was er mir erzählt hat.

Samuel Pisar war der jüngste Häftling des Leonberger Konzentrationslagers und ist heute, sieben Jahrzehnte später, einer der letzten Augenzeugen dieser Zeit. Und er ist jener lyrisch begabte Mann, den der Komponist Leonard Bernstein gebeten hat, einen Text, ein „Symphonic Poem“, für seine Sinfonie Nr. 3 zu schreiben.

Ein großer im internationalen Beratergeschäft

Pisar war 1961, als John F. Kennedy Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde, Junior-Advisor im Weißen Haus. Während der folgenden zwei Jahre stieg er innerhalb der präsidialen Berater schnell zu höheren Aufgaben auf. Auch jetzt noch, er wird am Dienstag 85 Jahre alt, ist er einer der ganz Großen im internationalen Beratergeschäft. Seine Meinung ist gefragt. Er trifft Präsidenten und Premierminister, spricht als Gast im Bundestag, im Europaparlament oder auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos. Die „Washington Post“, „Le Monde“ in Paris, die „New York Times“, die „Financial Times“ in London und die „Jerusalem Post“ kommentieren seine Vorträge.

Samuel Pisar wurde am 18. März 1929 in einer jüdischen Familie im polnischen Bialystok geboren. Etwa die Hälfte der 90 000 Menschen, die dort seinerzeit lebten, waren Juden. Im Sommer 1941, nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion, wurden etwa 50 000 Juden in das eilig eingerichtete Ghetto seiner Heimatstadt gezwungen. Die Deutschen hatten dieses nach den ersten Massenerschießungen eingerichtet. Zur gleichen Zeit wurden 2000 Juden in der Synagoge des Ortes eingepfercht. Danach zündeten die Deutschen sie an. Niemand überlebte dieses bestialische Verbrechen.

Mit 14 kam Samuel ins Konzentrationslager Majdanek, danach nach Blizyn und Auschwitz. Im Januar 1945 wurde er über Sachsenhausen und Oranienburg nach Leonberg gebracht. Dort arbeitete er mit mehr als 4000 anderen jüdischen Männern an den Flügeln des Kriegsflugzeugs Me 262. Weil die Front durch die Rote Armee im Osten immer weiter in Richtung Westen verschoben wurde, ließ die NS-Regierung auch die Rüstungsindustrie nach und nach in Richtung Westen verlegen. Vor allem Bergwerke, Schächte und Tunnels wie der Autobahntunnel bei Leonberg waren nun wegen der ständigen Gefahr der alliierten Bombardierungen gefragt. Die Folgen für die Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge waren katastrophal. Ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen verschlimmerten sich in den Jahren 1944 und 45 immer weiter.

Das Blut der Hoffnung

Über seine Erlebnisse in den Lagern und über sein frühes Leben insgesamt hat Samuel Pisar in den 80er Jahren ein Buch geschrieben. Der deutsche Titel „Das Blut der Hoffnung“ deutet an, dass sein Leben alles andere als normal verlaufen war. Er hatte die vielen Transporte und Lager nur mit großem Glück und zähem Willen überlebt.

Als der Tunnel in Leonberg endgültig geschlossen wurde, mussten die Häftlinge zu Fuß zurück nach Bayern. Diese Deportationen von Tausenden Menschen werden heute zu Recht „Todesmärsche“ genannt. Viele überlebten die Strapazen nicht, wurden erschlagen, erschossen oder brachen einfach am Straßenrand zusammen.

Samuel Pisars Todesmarsch führte ihn mit der Leonberger Gruppe nach Kaufering in Bayern. Von dort sollten wiederum Hunderte zurück nach Dachau gebracht werden. Auf dem letzten Teilstück des Weges gelang es Samuel Pisar, zusammen mit zwei Freunden, sich von der Häftlingsgruppe abzusetzen. Schließlich wurden sie von amerikanischen Soldaten gerettet.

Die Zeit der Gefangenschaft war nie so einnehmend für Samuel Pisar, dass er sich nicht hätte daraus befreien können. Es gab ja so viele andere Dinge, die sein Leben später bestimmten. „Ja, ich war geprägt von diesen frühen Erfahrungen, aber es ging auch weiter“, sagt er. „Ich wollte leben, etwas bewegen, mich einmischen!“

Von Landsberg über Paris nach Australien

Ich merke Samuel Pisar deutlich an, wie wichtig ihm dieser zweite Abschnitt seines Lebens ist, die Zeit nach dem Holocaust. Sie begann in einem amerikanischen Flüchtlingslager in Landsberg am Lech. Seine Tante, die Schwester seiner Mutter, lebte damals in Paris. Sie entdeckte seinen Namen auf einer Liste von ehemaligen KZ-Häftlingen, ließ Nachforschungen anstellen, und es bewahrheitete sich, dass ihr Neffe Samuel als Einziger ihrer Familie in Polen überlebt hatte. Sie holte ihn zu sich. So kam Samuel Pisar von Landsberg nach Paris und von dort wiederum zu seinem Onkel nach Australien.

Sein Weg führte ihn durch ein Jurastudium an der Universität von Melbourne, an der Harvard University in Boston und an der Sorbonne in Paris. Pisar erarbeitete sich zwei Doktortitel mit Auszeichnung und ist heute Professor mit einer Reihe von Ehrendoktorwürden. Zudem wurde er zum Grand Officier, Commander und Chevalier der französischen, polnischen und australischen Ehrenlegionen sowie Offizier des französischen Ehrenordens der Literatur und Künste ernannt. Kurzum: er machte eine grandiose Karriere.

Samuel Pisar zog aus den Erniedrigungen, den Schlägen, der Angst, dem unbändigen Hunger und dem hundertfachen Tod, der in seiner Jugend um ihn herum gewütet hatte, eine ungeheure Kraft. Die Erlebnisse konnte er in ein Jetzt-erst-recht ummünzen. Seine ganze Familie war im Holocaust ermordet worden, auch alle seine ehemaligen Schulkameraden sind umgekommen.

Text für eine Bernstein-Symphonie

Pisar stellte sich stets die quälende Frage: „Warum habe ich überlebt – warum nicht die anderen?“ In seinem Kaddisch, dem Text für Leonard Bernsteins Sinfonie Nr. 3, formuliert er seine Gedanken so:

„Mein heldenhafter Vater wurde gefoltert und von einem Erschießungskommando hingerichtet, bevor er in ein Massengrab geworfen wurde. Meine wunderbare Mutter wurde in einem Viehwaggon deportiert, um zu sterben. Dies erlitt sie zusammen mit meiner engelsgleichen Schwester, die kaum gelebt hatte. Alle meine Schulkameraden und eineinhalb Millionen anderer Kinder wurden ermordet. Warum sie und warum nicht ich – Herr? Welche Verbrechen, welche Sünden hatten sie denn begangen in diesem frühen Lebensalter?“

Samuel Pisar stellte sich immer wieder die Frage, ob seine Rettung einen tieferen Sinn gehabt hatte. Er wollte sich und allen anderen zeigen, dass er es schaffen konnte, von ganz unten nach ganz oben zu kommen. Vor allem aber dachte er oft an seine Mutter: „Was hätte sie wohl erwartet, was ich aus meinem Leben machen soll?“

Er hatte nach seinem Abschluss in Harvard eine ganze Reihe von lukrativen Angeboten von Banken der Wall Street. Aber in das schnelllebige Geldgeschäft wollte er auf keinen Fall. Dafür, da war sich Pisar sicher, hatte er nicht überlebt.

Rede an die Westberliner

Schließlich wurde er mit 30 Jahren wirtschaftspolitischer Berater des jungen Präsidenten John F. Kennedy. Zur Zeit der Kubakrise stand er sogar im Zentrum des Weißen Hauses. Die Ostpolitik und wie man mit der sowjetischen Bedrohung durch Generalsekretär Chruschtschow umgehen solle waren seine Themen.

Und dann, im Frühsommer 1963, zeigte sich, dass Kennedy bei seinem geplanten Berlin-Besuch unbedingt etwas auf Deutsch sagen wollte. Es sollte in einem Satz klar werden, dass sich die Westberliner auf die USA und den Präsidenten persönlich verlassen können. Weil Pisar einer der wenigen in Kennedys Beraterstab war, der Deutsch konnte, hat er Kennedy bei seiner Aussprache und Wortwahl beraten. So kam es zu dem berühmten Satz „Ich bin ein Berliner!“ vor dem Schöneberger Rathaus. Die Botschaft war klar: Westberlin steht auch in Zukunft unter dem Schutz der USA!

Nach Kennedys Ermordung verlegte sich Pisar auf die juristische Beratung von Schauspielern, Showgrößen, Wirtschaftsunternehmen und großen Organisationen. Zu seinen Klienten zählten Liz Taylor, Yul Brunner, Burt Lancaster und Steve Jobs. In Frankreich, wo Pisar seit Mitte der 70er Jahre lebt und als Rechtsanwalt arbeitet, war oder ist er mit Marc Chagall, Yves Montand, Valéry Giscard d’Estaing und Jean Monnet befreundet. Henry Kissinger, den er ebenso wie Präsident Nixon mit seiner Vorstellung von Entspannungspolitik beeinflusst hat, gehört ebenso wie Bill und Hillary Clinton zu seinem Freundeskreis. Nikolas Sarkozy, der ihm den Orden der französischen Ehrenlegion verliehen hat, steht in einer Reihe mit vielen anderen Politikern, die Samuel Pisar kennen- und schätzen gelernt haben.

Seine Kanzleien in Paris, New York und London betreibt Samuel Pisar nach wie vor persönlich. Aber er hat seinen Wirkungskreis noch einmal erweitert, seit 2012 ist er Botschafter der Unesco für „Holocaust Education“. Die Frage lautet: Was können wir tun, um Völkermorde zu verhindern?

Mahnung und Aufforderung zugleich

Pisar beschreibt seine Mission so: „In den vergangenen Jahren kamen ganz neue Probleme auf uns zu. Zum Teil sind sie größer als früher. Ich meine vor allem den Terrorismus, den Islamismus und den politischen Radikalismus. Das sind Entwicklungen, denen wir zu begegnen haben. Wir haben große Aufgaben zu bewältigen und müssen uns selbst immer wieder hinterfragen. Es geht darum, dass die nächste Generation immer noch eine lebenswerte Welt vorfindet. Deshalb müssen wir uns für Frieden und Gerechtigkeit einsetzen.“

Samuel Pisars Einsichten sind nicht nach hinten gewandt. Die Asche von Auschwitz sagt viel über die verbrecherische Vergangenheit aus, sie sagt aber auch viel über die Gegenwart und die Zukunft aus. Sie ist Mahnung und Aufforderung zugleich.

In seinem Kaddisch zu Bernsteins Sinfonie macht Pisar deutlich: Die in Auschwitz Ermordeten dürften nicht umsonst gestorben sein. Der Häftling, der mit seinen Fingernägeln in die Wand einer Gaskammer „Never forget!“ geritzt hat, müsse ewig gehört werden. Und dessen „Never forget!“ müsse erweitert werden: „Vergesst nicht, was passiert ist, und achtet bei euch und in Zukunft darauf, dass sich solche Gräueltaten nie wieder ereignen können! Es darf in Zukunft niemals wieder jemand wegen seines Glaubens, seiner Meinung, seiner Herkunft oder seiner Nationalität verfolgt, gemartert oder gar ermordet werden!“

Hohe Ansprüche und hehre Ziele

Diese Botschaft hatte sich Leonard Bernstein wohl erhofft, als er Pisar bat, ein „Symphonic Poem“ für ihn zu verfassen: „Ich kann das nicht schreiben“, hatte Bernstein damals gesagt, „ich habe nicht gelitten. Meine Erfahrungen sind zu wenig tiefgehend, mein Text wäre zu schwach.“

Einem wie Samuel Pisar dagegen, der die bittersten Tiefen der menschlichen Natur zu spüren bekam, dem nimmt man diesen zornigen Dialog mit Gott ab. Dem glaubt man die verzweifelte Frage, warum Gott diese furchtbare Geschichte des jüdischen Volkes zugelassen hat.

Samuel Pisar hat Frieden mit seiner Geschichte geschlossen. Er hat nichts vergessen, aber er hat sich von den Erlebnissen nicht niederschmettern lassen. Er ist nach all den furchtbaren Erlebnissen wieder aufgestanden und hat sein Schicksal fest in die Hand genommen. Das Leben ging weiter, auch für ihn – mittlerweile schon fast 70 Jahre! Samuel Pisar wollte auf keinen Fall, dass die Nazis am Ende die Oberhand behielten und ihn zerstörten. „Mein Rückgrat war nicht gebrochen, es war durch all die Erfahrungen nur verbogen“, sagt er.

Das Frühstückbüfett wird abgeräumt. Es ist an der Zeit, mich von Samuel Pisar zu verabschieden. Ich bin einem Mann begegnet, der mit Mitte 80 noch immer hohe Ansprüche hat und hehre Ziele verfolgt. Wie endet sein Kaddisch? „Schließe einen neuen Bund mit uns, Herr! Führe uns zu Versöhnung, Toleranz und Brüderlichkeit auf unserem kleinen und zerbrechlichen Planeten unserer gemeinsamen Heimat!“