1986 werden bei einem Großbrand in Schweizerhalle bei Basel giftige Chemikalien frei. Experten sehen die Gefahr einer Wiederholung.

Basel - Mitten in der Nacht bricht das Inferno aus. Im Industriegebiet Schweizerhalle dringt schwarzer Qualm aus dem Lagerhaus 956 der Chemiefirma Sandoz, giftiger Gestank breitet sich aus. Bald steht das Gebäude in Flammen. Explodierende Fässer schießen durch die Luft, verwandeln sich in Feuerbälle. Ein dumpfer Knall folgt auf den nächsten. Es ist die Nacht auf den 1. November 1986. Der größte Chemieunfall im Dreiländereck von Schweiz, Frankreich und Deutschland nimmt seinen Lauf. Er wird zu einer der größten deutschen Umweltkatastrophen und er wird das Vertrauen in die Chemieindustrie nachhaltig erschüttern.

 

Bei dem Brand gehen 1350 Tonnen Chemikalien in Flammen auf. Abertausende Kubikmeter Löschwasser fließen von der Lagerhalle bei Flusskilometer 169 direkt in den Rhein. Sie schwemmen Insektizide, Pestizide und andere hochgiftige Chemikalien wie Quecksilber in die Strömung. Die Brühe färbt den Fluss rot. Die Giftwelle löst rheinabwärts ein massenhaftes Fischsterben aus. Auf einer Länge von 400 Kilometern wird der gesamte Aalbestand ausgelöscht. Tausende Fische und andere Lebewesen sterben. 1252 Menschen erleiden Reizungen der Atemwege und der Augen. Getötet wird zum Glück niemand. Die Trinkwasserentnahme entlang des gesamten Rheins muss drei Wochen lang gestoppt werden. Das verschmutzte Löschwasser versickert auch in den Boden und gefährdet das Trinkwasser von mehr als 200.000 Menschen.

Mannheim löst den internationalen Rheinalarm aus

Der offizielle Untersuchungsbericht kommt zu dem Ergebnis, dass sich der leicht entzündliche Agro-Markier-Farbstoff Berliner Blau erhitzt hat. Die Behörden stufen den Vorfall zunächst als eines von zahlreichen "Ereignissen" ein, die bei der Basler Chemie nicht selten sind. Weil Basel versagt, löst Mannheim den internationalen Rheinalarm aus.

Nikolaus Geiler verfolgt in Freiburg im Breisgau die Nachrichten im Radio. Es ist Feiertag, zugleich auch ein Samstag. Am Sonntag wird die Unsicherheit und das Chaos auf Schweizer Seite noch ärger. Der 34-Jährige ahnt, dass alles schlimmer ist als berichtet wird. Der Limnologe (Binnenwasserkundler) ist früher Ökoaktivist und hat den Widerstand gegen das Atomkraftwerk Wyhl mit organisiert. Die Sandoz-Katastrophe wird sein Thema. Zwei Jahre lang wird er in seinem Gutachterbüro im Freiburger Stühlinger nichts anderes tun, als Bürgerinitiativen und Umweltverbände fachlich beraten. Eine Woche nach dem Unglück organisiert er eine Menschenkette von Basel bis Freiburg. Geiler hat den saarländischen Umweltminister Jo Leinen (SPD) an der Hand. Auf dem Arm trägt er seine halbjährige Tochter. Die Empörung in der Öffentlichkeit in der Schweiz, Deutschland, Frankreich und den Niederlanden ist groß.

Die Firmenleitung kommt ungeschoren davon

Im April war das Atomkraftwerk von Tschernobyl explodiert, die Erinnerungen an die Chemieunglücke in Seveso und Bophal sind noch frisch. Doch die Firmenleitung kommt ungeschoren davon. Später leistet Sandoz - 1996 wird der Konzern mit Ciba-Geigy zu Novartis fusionieren - freiwillig Schadensersatz in Höhe von 43 Millionen Schweizer Franken, rund 35 Millionen Euro. Den Schaden des Unglücks beziffert das Unternehmen auf 141 Millionen Franken (115 Millionen Euro). 1987 stiftet der Konzern, der mit weltweit 40.000 Mitarbeitern einen Milliardenumsatz erzielt, zehn Millionen Franken für die Erforschung des Ökosystems des Rheins.

Die langfristigen Folgen der Katastrophe werden unterschiedlich beurteilt. Politiker und Behördenvertreter stellen sie meist positiv dar. Das Sandoz-Unglück habe einen umfassenden Umwelt- und Gewässerschutz in Gang gesetzt, Messsysteme und Alarmpläne ermöglicht. Millionen Euro seien in den Gewässerschutz geflossen, ein Programm zur Wiederansiedlung des Lachses auferlegt worden. Der Rhein, so die Botschaft, sei heute "sauberer als vor 100 Jahren".

Produktion nach Asien verlagert

Andere sind da weniger optimistisch. Peter Donath, der 25 Jahre bei der Ciba und zuletzt Umweltchef war, kommt zu dem Schluss, dass die Katastrophe "keine nachhaltige Wirkung hatte". Die Basler Chemie habe einfach ihre Produktion nach Asien verlagert. Der Geograf Martin Forter, ausgewiesener Kritiker der Basler Chemie, sieht keinerlei Grund zum Feiern. Ganz im Gegenteil. Der Sandoz-Nachfolger Novartis habe die Sanierung - entgegen den Versprechungen - in den vergangenen 17 Jahren nicht wirklich erbracht. In seinem 2010 erschienenen Buch "Falsches Spiel" weist er nach, wie die Großchemie im Fall Schweizerhalle sich Stück für Stück von den mit den Behörden vereinbarten Sanierungszielen entfernt. Bis heute gibt es keine Totalsanierung des Brandplatzes, obwohl dieser noch immer das Trinkwasser in der Region gefährdet. Ein 200 Meter entfernt gelegener Brunnen kann noch immer nicht uneingeschränkt genutzt werden.

Forter verweist auf eine Fülle hochgiftiger und krebserregender Substanzen, die noch immer dort lagern. Notwendige Untersuchungen würden unterlassen. Statt der maximal zulässigen 0,5 Kilogramm gelangten Jahr für Jahr drei bis vier Kilogramm an Schadstoffen vom früheren Brandort ins Grundwasser. Die Regierung von Baselland hält eine weitere Sanierung nicht für notwendig, teilt sie zum Jahrestag mit. Eine bloße Überwachung des Geländes sei ausreichend. Gewässerexperte Geiler kann das nicht nachvollziehen. "Hier ist eine Totalsanierung nötig, nicht nur eine Beobachtung." Im Namen des Arbeitskreises Wasser im Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) fordert er die Politiker im Dreiländereck auf, beim Gewässerschutz "die Hände nicht in den Schoß zu legen". Durch Wettbewerbs- und Rationalisierungsdruck werde in den Umweltschutzabteilungen der Behörden und Konzerne zunehmend gespart. Geiler sagt: "Das Risiko für ein ,SandozII' steigt."

Der Großbrand vor rund 25 Jahren und die Folgen

Lage: Schweizerhalle ist ein bedeutendes Industriegebiet der Basler Chemiekonzerne. Es liegt direkt am Rhein und gehört zu den beiden zu Baselland zählenden Gemeinden Muttenz und Pratteln. Zu Beginn des 19. Jahrhundert war es ein wichtiger Standort für die frühe Salzgewinnung. Bereits 1837 entstand hier die erste Saline. Salz und Wasser waren Faktoren für die Expansion der chemischen Industrie von Basel in das Umland.

Brand: Bei dem Großbrand am 1. November 1986 gehen 1350 Tonnen hochgefährliche und giftige Chemikalien in den Flammen auf. Grund ist vermutlich ein Glimmbrand bei dem Agro-Markier-Farbstoff Berliner Blau. Das Feuer weht daraufhin eine Wolke auf Basel zu. Die Bevölkerung wird nicht gewarnt. Abertausende Liter Löschwasser schwemmen 30 Tonnen Chemikalien, darunter Pestizide und Quecksilber, in den Rhein und färben ihn rot.

Folgen: Die Giftwelle löst rheinabwärts auf einer Länge von 400 Kilometern die Aalpopulation aus und tötet Tausende von Fischen und andere Lebewesen. Die Trinkwasserentnahme, die 20 Millionen Menschen versorgt, wird für drei Wochen bis in die Niederlande eingestellt. Der Brandort ist, anders als versprochen, nie vollständig saniert worden. Die giftigen Substanzen im Boden gefährden noch immer das Grundwasser.