Das Stuttgarter Schauspiel wird bei der Sanierung nicht wie geplant in ein Zelt ziehen können. Der Intendant sucht nach Lösungen – und streitet sich offen mit dem Bauherrn.

Stuttgart - So sieht der größte anzunehmende Unfall in einem Theater aus: Das Stuttgarter Schauspiel hat in der kommenden Saison womöglich keine große Bühne mehr, um große Produktionen rauszubringen – und das, weil die vom Intendanten Hasko Weber aus der Not geborene, Ende März ins Spiel gebrachte Idee eines Theaterzelts nach eingehender Prüfung nicht weiter verfolgt werden kann. Sie sei nicht sinnvoll umzusetzen, so Webers Expertise, der sich der Verwaltungsrat auf seiner gestrigen Sitzung anschloss. Auf die düsteren Zukunftsaussichten reagierte das Gremium genau so überrascht und entgeistert wie der Rest des Publikums.

 

Der Hintergrund: die Mängel des im Februar nach der Sanierung wiedereröffneten Haus sind immer noch so gravierend, dass die ursprünglich zu ihrer Behebung vorgesehenen Theaterferien nicht ausreichen. Weil die Handwerker ab Juli/August also wieder für längere Zeit auf der Baustelle anrücken müssen, fasste man im Theater den Plan, nach Ende der laufenden Saison ein Theaterzelt aufzustellen und ebendort die neue Spielzeit zu eröffnen. Daraus wird nun nichts. Nachdem Weber alle Möglichkeiten ausgelotet hat, ist er zu einem ernüchternden Ergebnis gekommen: Der Aufwand für den Notbehelf stünde in keinerlei Verhältnis zu dessen Ertrag – ganz zu schweigen von den technischen und sicherheitsrechtlichen Anforderungen, die beim Betrieb eines Zeltes zu beachten wären. „Das geht nicht“, sagte Weber lapidar.

Kosten würden zu sehr steigen

Zerschlagen hat sich vor allem die Hoffnung, bei der nun verworfenen Zeltlösung die Infrastruktur des Schauspielhauses nutzen zu können. Anders als die Bühnentechnik sind Gastronomie, Garderobe, Toiletten und andere Funktionsräume ja intakt – sie mit dem Zelt zu verbinden, wäre theoretisch zwar möglich, würde sich praktisch aber derart aufwendig gestalten, dass die Kosten in enorme Höhen klettern würden. Zusammen mit den zu erwartenden Einnahmeausfällen würden sie sich auf zwei bis drei Millionen Euro belaufen. Zum Vergleich: die Einrichtung der anderthalb Jahre lang genutzten Spielstätte in der Türlenstraße schlug mit vier Millionen Euro zu Buche. Hinzu käme bei der Zeltvariante noch, dass auch der Park weiter zerstört werden müsste: mit einer fünf Meter breiten, asphaltierten Zelt-Umgehungsstraße, die Feuerwehr und Rotkreuz als Fahrweg dienen müsste. Auch das geht gar nicht.

Was tun? Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster, der dem Verwaltungrat vorsitzt, stellte den einvernehmlich gefassten Plan B vor. „Wir haben Hasko Weber gebeten, sich in der Stadt nach Orten umzuschauen, an denen das Schauspielhaus spielen könnte.“ Auch wenn dieser neuerliche Umzug personell und finanziell enorme Ressourcen binden würde, sehe er zu diesem Vorschlag keine Alternative, so Schuster. Als geeignete Interimsspielstätten kämen beispielsweise auch andere Theater infrage – welche Bühnen das wären, das konnten und wollten Weber und Schuster am Montag freilich nicht verraten.

Neue Prognose: Anfang 2013

Nicht so verschlossen zeigte sich der Oberbürgermeister bei der Frage, wie lange das zu findende Provisorium anhalten werde. „Zu Beginn des Jahres 2013 soll das Theater in sein Stammhaus zurückkehren“, sagte Schuster. Explizit bezog er sich bei dieser Prognose auf die Aussage des Ministerialdirigenten Wolfgang Leidig, der im Finanzministerium von Nils Schmid unter anderem die staatliche Bauverwaltung unter sich hat. Sie trägt als Bauherr die Verantwortung für die von Pannen begleitete Renovierung des Schauspielhauses – und sie stellt nun eben in Aussicht, dass die neue, zweite Sanierungsphase sechs Monate dauern werde, was zu dem von Schuster genannten Termin führen würde. Allein, die Theaterleute zweifelten auch am Montag wieder heftig an dem Versprechen des Bauherrn. Noch immer, sagte Hasko Weber, habe die staatliche Bauverwaltung keine konkrete Planung für die erwähnte zweite Sanierungsphase vorgelegt, trotz aller Mahnungen und Alarmrufe. Und bevor sich jetzt bei der versammelten Presse der Eindruck festsetzen konnte, man habe aus den bisherigen schlechten Erfahrungen nichts gelernt, widersprach der Mann vom Ministerium: Leidig und Weber lieferten sich auf offener Bühne einen Schlagabtausch, der in seiner Vehemenz aufhorchen ließ. Noch immer scheint die Beziehung zwischen den beiden Häusern sehr angespannt zu sein – so angespannt jedenfalls, dass die Stuttgarter Kulturbürgermeisterin Susanne Eisenmann, auch sie Mitglied im Verwaltungsrat, den Streit schließlich schlichtete. Freilich machte auch sie dabei keinen Hehl aus ihrer Skepsis gegenüber dem Bauherrn: „Sechs Monate für die weitere Renovierung – das nenn ich sportlich.“

Derweil wird die Mängelliste im Schauspielhaus eher länger als kürzer. Sie reicht vom Inspizientenpult bis hin zum Bühnenboden, von den Hubpodien bis hin zur Bestuhlung im Parkett. Dass die Nachbesserungen die Sanierungskosten von ursprünglich 25 Millionen Euro enorm in die Höhe treiben, ist das eine. Dass sich dadurch, weil das Bauvolumen für die Staatstheater 52 Millionen Euro nicht übersteigen darf, der Etat für die Sanierung der Oper reduziert, das andere. Doch ein weiterer, dritter Punkt dürfte für den Ende der Spielzeit 2012/13 ans Weimarer Nationaltheater wechselnden Intendanten Hasko Weber der bitterste sein: dass er seinen Abschied zwar geben muss, aber seit gestern nicht mehr weiß, wo genau eigentlich.

Ja, doch, das Kammertheater und das Nord stehen Weber als Spielorte auch in der nächsten Saison wieder zur Verfügung. Trotzdem muss er wegen fehlender Hauptbühne mit einem enormen künstlerischen Handicap in seine letzte Spielzeit gehen. Mehr noch: er muss auch produktiv mit dem Mangel umgehen, wenn er sich selber und seinem Publikum einen würdigen Abschied bereiten will. Das freilich gleicht der Quadratur des Kreises. Die nächste Spielzeit ist zwar schon vollkommen geplant, der Druck des für das Publikum bestimmten Spielzeitbuchs aber vorerst gestoppt. Der GAU kam dazwischen – und hat allen acht großen Inszenierungen 2012/13 erstmal den Boden entzogen. Im Schauspielhaus fällt bald wieder der Vorhang. Alle Fragen aber sind jetzt schon offen.