Laut einem Städtevergleich ist der Wirtschaftsstandort Reutlingen schlechter als sein Ruf. Die Stadt arbeitet nun daran, für die Zukunft vorzusorgen und die Bedingungen für die Gewerbeansiedlung zu verbessern.

Reutlingen - Wenn jemand Reutlingen als prosperierende Großstadt bezeichnet, würde die Zustimmung den Widerspruch wohl deutlich überwiegen. Aus der Faktenlage ergibt sich aber ein ganz anderes Bild. Reutlingen steht in vielen Maßstäben schlechter da als vergleichbare Städte wie Esslingen, Heilbronn, Ludwigsburg, Pforzheim, Ulm und sogar Tübingen. Die Stadt will reagieren, um künftigen Gewerbeansiedlungen Angebote machen zu können. In den nächsten Jahren bis Jahrzehnten sollen bis zu 150 Hektar als Gewerbefläche ausgewiesen werden. „Zurzeit können wir nur 4,5 Hektar anbieten, das ist zu wenig, das reicht für ein paar Handwerker“, sagt der Finanz- und Wirtschaftsbürgermeister Alexander Kreher.

 

Das positive Image Reutlingens als Industriestandort rührt aus einer Zeit, als die Textilindustrie in Baden-Württemberg florierte. 1950, um ein Jahr herauszugreifen, hatte die Stadt 27 600 Arbeitsplätze zu bieten, davon 10 000 in der Textilindustrie. 2006 waren davon noch 500 übrig geblieben, obwohl die Zahl der Beschäftigten auf insgesamt 47 600 gestiegen war. Eine Folge: 56 Hektar an historischen Gewerbelagen haben mit Industrie nichts mehr zu tun. Wohnungen sind dort entstanden, der Einzelhandel hat sich angesiedelt, Straßen und Grünflächen haben sich breitgemacht.

Relativ wenige Beschäftigte

Produzierendes Gewerbe außerhalb der Textilbranche fühlt sich in der Stadt noch immer zu Hause. Doch wer sich im Maschinenbau in Deutschland halten kann, der setzt auf automatisierte Arbeitsabläufe, was zu Lasten der Zahl der Beschäftigten geht. Hinzu kommen niedrigere Gewinnspannen, und entsprechend weniger füllt die Gewerbesteuer die Stadtkasse.

Die aktuelle Entwicklung hat der Stuttgarter Gutachter und frühere Reutlinger Stadtrat Professor Richard Reschl untersucht und mit anderen Städten verglichen. Einige der wichtigsten Ergebnisse seiner Expertise zeigen, dass die Zahl der Beschäftigten je hundert Einwohner mit 44 in Reutlingen niedriger liegt als in anderen Städten. Spitzenreiter ist Ulm mit 72 Beschäftigten je 100 Einwohner vor Heilbronn (54) und Ludwigsburg (51).

Die Zahl der Beschäftigten insgesamt hat sich mit gut 48 000 in Reutlingen seit 2001 kaum verändert, in Pforzheim oder Tübingen stieg sie um 14 Prozent. Auch bei der Gewerbesteuer je Beschäftigtem liegt Reutlingen am Ende des Rankings, 791 Euro stehen einem Durchschnitt der Städte von 1272 Euro gegenüber. In absoluten Zahlen hat das deutlich kleinere Tübingen die Nachbarstadt nahezu eingeholt. Das Fazit von Richard Reschl: „Um das Durchschnittsniveau der Vergleichstädte von 53 Beschäftigten je 100 Einwohner zu erreichen, müssten 10 100 Arbeitsplätze hinzukommen.“

Handlungsfähigkeit erhalten

Nun ist es nicht so, dass die Unternehmen in Reutlingen Schlange stehen. „Wir haben in den letzten Jahren niemanden abweisen müssen“, sagt Oberbürgermeisterin Barbara Bosch. Aber neue Flächen seien notwendig, um auch in Zukunft handlungsfähig zu bleiben. Mehr Platz für Gewerbe aller Art ist auch deswegen notwendig, weil laut Reschl kaum einer mehr in Etagen produzieren wolle, sondern vielmehr ebenerdig. So wird schon mehr Fläche benötigt, um die gegenwärtige Zahl der Beschäftigten halten zu können.

Das Thema ist nicht gerade neu in der Stadt. Vor allem in den Stadtbezirken Reutlingens wurde schon öfters über neue Gewerbeflächen diskutiert – und dahingehende Wünsche nicht selten abschlägig beschieden. „Die Ausweisung solcher Flächen ist nicht immer leicht“, sagt Barbara Bosch. Vor der eigenen Haustüre seien solche Fläche oft nicht gerne gesehen.

Mehr als hundert Hektar fürs Gewerbe sind in den Plänen eines Gewerbeflächenentwicklungskonzeptes verzeichnet. Um die Zustimmung in den Bezirksbeiräten will die Stadtverwaltung nun werben. Und darüber hinaus Nachbargemeinden dazugewinnen, weitere interkommunale Gewerbegebiete auszuweisen. Auch Bestandsflächen sollen für das Gewerbe reaktiviert werden. „Wir planen den großen Aufschlag“, sagt die Oberbürgermeisterin Barbara Bosch. Und sie weiß, dass bis zu einem Erfolg leicht fünf, aber auch bis zu 20 Jahre vergehen können.