Erinnerung oder Vision? Die belgische Choreografin Anne Teresa de Keersmaeker begibt sich in „Verklärte Nacht“ auf die Spuren einer Dreiecksgeschichte und hebt Zeitgrenzen auf.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Ludwigsburg - ang ist’s her, dass etwas von Anne Teresa de Keersmaeker in Ludwigsburg zu sehen war. Jetzt haben die Schlossfestspiele eine Produktion der belgischen Choreografin in die Karlskaserne geholt. Und so kam es am Samstag dort in der Reithalle zu einer ungewöhnlichen Begegnung.

 

Ungewöhnlich, weil die Schlossfestspiele eigentlich experimentierfreudige Grenzüberschreitungen lieben und „Verklärte Nacht“ das Gegenteil davon ist, nämlich eine verblüffend klassische Anordnung, bei der Tanz auf Musik trifft. Ungewöhnllich auch, weil De Keersmaeker, die einst mit Bewegung kühl Strukturen auslotete, sich in große Gefühle zwischen Verzücken und Verzweiflung stürzt.

Zum Festspielthema „Erzählungen“ passt dieser Abend freilich bestens, nicht nur, weil er Schönbergs expressiv ausgemaltes Streichsextett „Verklärte Nacht“ zum Ausgangspunkt einer dramaturgisch raffiniert eingefädelten Dreiecksgeschichte nimmt. Ein Paar tritt auf, sie im Blümchenkleid, er im dunklen Anzug. Auf der Diagonalen durch den Raum kommen sie nicht weit, halten nach einer kurzen Begegnung im Tanz sehr lang inne – hält er sie, lässt er sie fallen? – um dann wieder abzugehen. Dann kommen sie zurück – mit einem anderen Mann an der Seite beginnt sie den Weg durch die Nacht noch einmal. Dieser Kunstgriff hält die folgenden 45 Minuten wunderbar in der Schwebe. Ein Paar tanzt, doch es ist eine Begegnung in einer unklaren Zeit: Ist es Rückblick auf einen bereits erfolgten Ehebruch? Damals, als ich mit dem anderen... ? Oder ist es eine Fantasterei über das Mögliche – was wäre, wenn?

Was wäre, wenn?

Mit ausgreifenden Armbewegungen dreht sich Samantha van Wissen in den Raum, später wird sie Nordine Benchorf durch diesen wirbeln, als hätte De Keersmaeker Crankos „Widerspenstige“ in Modern Dance übersetzt, und seine Partnerin heben, als wollte er ihr in den Schoß schauen. Die dramatischen Höhepunkte, die Schönberg ausmalt, lässt Keersmaeker klug unkommentiert; und bietet doch genug Tanzstoff, um ihr Paar, dem nichts und niemand eine Atempause gönnt, ausgepowert zurückzulassen.