Eines der Themen Ihrer Ausstellung ist Emanzipation: Fühlen Sie sich heute, mit 85 Jahren, emanzipierter als damals, als Sie 34 waren?
Hinter Ihrer Frage steckt eine darwinistische Vorstellung, als unterliege auch die Emanzipation einer Evolution. Ich glaube, das funktioniert anders: Emanzipation ist etwas, das in jedem von uns steckt, jederzeit. Wir Menschen sind sehr alte Lebewesen. Die Billiarden von Zellen, die Sie und ich miteinander herumtragen, gibt es seit undenklichen Zeiten. Und sie sind von sich aus rebellisch. Sie gehorchen nicht. Ein Beispiel aus der Ausstellung: Ein Kampfpilot will ein Haus im Irak bombardieren, wo er Terroristen vermutet. Doch sein Darm spielt ihm einen Streich. Er macht sich aus Nervosität in die Hose und verreißt das Steuer, weshalb die Bombe ihr Ziel verfehlt – und die Hochzeitsgesellschaft, die in Wirklichkeit in dem Haus war, ist gerettet. Der rebellierende Darm war klüger als der Kopf – und das fünfminütige Video dazu heißt: „Der Darm denkt“.
Denken auch andere Organe?
Die Emanzipation steckt überall, in den Fußsohlen, in der Haut, im Zwerchfell: Wenn etwas ganz Autoritäres auf Sie zukommt und Sie trotzdem lachen müssen, können Sie dieses Lachen nicht bezwingen. Da ist ein Eigensinn in uns, den wir lieben und kultivieren müssen: in „Gärten der Kooperation“, wie ich das nenne. Wenn Sie das tun, den ungehorsamen Eigensinn pflegen, als Form der Glückssuche, kommt Freiheit und Emanzipation als Ergebnis heraus.
Lachen als Zwerchfell-Emanzipation: zeigen Sie deshalb in der Ausstellung auch Charlie Chaplin, der über ein Hochseil balanciert und dabei von einer Horde kleiner Äffchen gestört wird?
Auch ich finde diese Zirkusnummer sehr komisch, sehe sie aber in einem anderen Zusammenhang: Die Vernunft ist eine Balance-Tier. Sie ist keine Rechthaberin, die sagt: Das ist wahr, das ist falsch. Sie hat mit dem Geklapper des Verstands nichts zu tun. Vernunft kommt aus dem Herzen und sucht, wie Chaplin auf dem Seil, nach Gleichgewicht. Ich glaube auch nicht an die Idee, dass man aus willentlicher Anstrengung vernünftig handelt. Vernunft muss Ihnen von Herzen Lust machen. Im Übrigen ist diese Vernunft immer etwas, das zwischen zwei Menschen entsteht: Robinson braucht seinen Freitag, um auf der Insel zu überleben.
In unserem Gespräch fällt mir, wie schon so oft, Ihre Stimme auf: Sie ist ruhig, sanft, freundlich, zärtlich. Es ist nicht die Stimme eines Kämpfers.
Da täuschen Sie sich. Ich kämpfe ziemlich viel, aber ich kann mit der Stimme meiner Schwester kämpfen. Ich muss nicht drängen, fordern, schreien, überhaupt nicht, so könnte ich keinen Kampf gewinnen. Ich kann ihn nur gewinnen, wenn ich Sie gewinne – als mein Gegenüber. Herzliche Vernunft entsteht durch Inklusion: Zwei Menschen senken ihre Ich-Schranken und nehmen den anderen in sich auf. Dann bildet sich eine Plattform zwischen Ihnen, die durch jedes Gespräch reicher wird, weshalb auch nichts mehr Spaß macht als der gelungene Austausch in einem Dialog.
Gilt das auch für die Liebe, diese Spezialform des Austauschs?
Gerade da. Nirgends zeigt sich die Herzlichkeit der Vernunft klarer, unverstellter und unabweisbarer als in der warmherzigen Intimität zweier Menschen.

Das Gespräch führte Roland Müller.