Beim gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung geht es nur voran, wenn die Schritte behutsam und bedächtig geplant sind. Wann das Gesetz zur Inklusion kommt, ist zweitrangig. Das zeigt ein Schulbesuch in Bruchsal.

Stuttgart - Es sieht alles so spielerisch aus in der Stirnum-Grundschule in Bruchsal. „Die Sterne glit-zern und fun-keln, glit-zern und fun-keln“, klatschen 21 Kinder im schnellen Rhythmus des Daktylus’. Tamburine, Rassel-Eier und Triangeln kommen ins Spiel: „End-lich ist Weih-nach-ten.“ Das „Sternen-Rhythmical“ der ersten Klassen kann sich schon hören lassen. Die Truppe ist höchst vielfältig. Geübt wird in Gruppen zu etwa 20 Schülern. Insgesamt musizieren hier 71 Erstklässler der Stirnumschule und 15 Kinder aus der Förderklasse der Grundschule, die bei der Einschulung zurückgestellt wurden. Hinzu kommen 21 Kinder von der Pestalozzi-Förderschule. Und dazu kommt noch Thorsten (Name geändert). Thorsten fungiert als Außenklasse. Die Fachleute sagen, er habe einen „festgestellten Förderbedarf im Sinne der Sonderschule für Erziehungshilfe“.

 

Thorsten sitzt gerade in einem Sitzkreis und versucht, die Konsistenz eines Sterns zu beschreiben. Ist er hart, weich, zackig oder schwer? Hinter Thorsten sitzt die Sonderschullehrerin Sandra Tulke, die ab und an beruhigend auf Thorsten einredet und ihm hilft, falls es ihm in der Gruppe zu viel wird. Und das kann schnell passieren. Abgesehen davon gilt für Thorsten, dass er die gleichen Dinge lernen soll wie alle anderen Grundschüler. Sozialpädagogisch gesprochen: sein Unterricht ist zielgleich. Etwas anders sieht es bei den 21 Kindern aus der Pestalozzischule aus.

Inklusion ist harte Arbeit

Auch sie sind eine Außenklasse der Stirnumschule, aber für sie gibt es ein gruppenbezogenes, zieldifferentes Angebot in den Klassenstufen eins und zwei. Die Stirnumschule hat schon lange Erfahrungen mit der Inklusion gemacht – lange bevor die Vereinten Nationen jedem Schüler das Recht zugestanden haben, Regelschulen zu besuchen. Seit zwei Jahren wird die Zusammenarbeit intensiviert. Im ersten Jahr hat man vor allem gemeinsame Projekte gemacht: Musik, Sport und Bildende Kunst zusammen unterrichtet. Man hat ein Waldprojekt auf die Beine gestellt und sich neulich intensiv mit Sankt Martin auseinandergesetzt. Drei- bis viermal kommt man im Jahr zu Projekten zusammen. Im zweiten Jahr wird zum Teil auch gemeinsam gerechnet, auch in Deutsch und im Sachunterricht wird die Zusammenarbeit ausgedehnt.

Die Stirnumschule zeigt dreierlei: Inklusion ist eine Frage der Einstellung, sie geht nicht von heute auf morgen und sie ist harte Arbeit. „Schritt für Schritt und sehr behutsam“ werden Kinder im Unterricht zusammen gebracht. „Die Herausforderung ist es, Vertrauen zu schaffen“, sagt die Schulleiterin Liane Blank. Die Lehrer haben Angst, weil sie nicht für den Bedarf der Kinder mit Behinderungen ausgebildet sind, Eltern haben Bedenken, ob ihre Kinder leistungsgerecht unterrichtet werden. Die Inklusion, die so sehr dafür gelobt wird, dass sie das soziale Bewusstsein der Kinder stärkt, birgt auch Gefahren. Susanne Hirsch, Schulleiterin der Förderschule, warnt vor dem, was sie die neue Behindertenfeindlichkeit nennt: „Eltern sagen, die werden zu gut ausgestattet.“ Dieser Missgunst müsse vorgebeugt werden. Die Ausstattung klingt gut. 30 Wochenstunden gibt es Teamteaching, dann sind zwei Lehrer in einer Klasse. Es gibt Schulsozialarbeit und Hausaufgabenbetreuung, auch ein Jugendbegleiterprogramm. Doch wie die anderen Inklusionsschüler wird auch Thorsten nur drei Stunden von seiner Sonderschullehrerin begleitet. „Viele Stunden sind wir allein“, sagen die Lehrerinnen, die auch in den höheren Klassen einzelne behinderte Kinder unterrichten. Sie hoffen auf mehr gemeinsame Lehrerstunden.

Inklusion hat einen hohen Absprachebedarf

Inklusion bedeutet Absprache: Stundenpläne müssen parallelisiert, neue Organisationsformen gefunden werden. In Bruchsal hospitieren die Grundschullehrer an der Förderschule und umgekehrt. „Der Zeitaufwand ist der Hammer“, sagt Liane Blank. „Man will ja allen Schülern gerecht werden“, sagt die Lehrerin Petra Kasel. Das sei durchaus anstrengend. In Bruchsal wünscht man sich, dass nichts übers Knie gebrochen wird. Der Weg über Außenklassen sei gut, sagt die Förderschulleiterin Hirsch. Ihre Forderung: Inklusionskinder müssen zum Klassenteiler dazugezählt werden und brauchen geeignete Räume. Während in Bruchsal Inklusion längst kein Fremdwort mehr ist, ist die Umsetzung landesweit ins Stocken geraten. Kultusminister Andreas Stoch (SPD) hat aus den Erfahrungen in Modellregionen gelernt: „Wir müssen behutsam vorgehen. Wir wollen an jedem Ort das richtige Tempo zulassen.“ Die Änderung des Schulgesetzes, die für 2014 geplant war, verschiebt er auf 2015/16 – zur Enttäuschung vieler Eltern. In Bruchsal findet er Verständnis. Qualität geht vor. „Die Gesetzesänderung könnte Schleusen öffnen“, sagt Stoch. Inklusion müsse aber perfekt durchdacht sein, damit sie gelingt.

Die Änderung des Schulgesetzes verzögert sich

Im Moment hängt es vor allem am Geld. Die Verhandlungen mit den Kommunen stocken. Die Gemeinden sähen sich nicht zuständig, klagt das Ministerium. Diese sollten für Räume und Betreuung aufkommen. Die Städte vermissen sowohl ein Inklusions- wie ein Finanzierungskonzept. Vom Bund kommt nicht so viel Geld wie erhofft. Ohne Klärung der Finanzfrage könne sich das Land 2014 keine weiteren Fortschritte leisten, betont Stoch.

Eckpunkte zur Inklusion will der Minister im Januar oder Februar vorlegen. Im Groben wird darin stehen, dass Eltern die Wahl haben sollen, ob ihre Kinder eine Sonderschule oder eine Regelschule besuchen. Allerdings werde es keine absolut freie Wahl geben. Inklusion soll gruppenbezogen erfolgen, dabei wird das Zwei-Lehrer-Prinzip angestrebt. „Einzelinklusion an allen Schulen ist unrealistisch“, sagt Stoch. Maximal sechs Kinder mit Behinderungen sollen in einer Klasse sein. Das Land habe keinen Impuls, Sonderschulen zu schließen, erklärt Stoch. Manches lasse sich auch ohne Gesetz regeln. Zum Beispiel, dass Inklusionskinder zum Klassenteiler hinzugezählt werden. Ohnehin ist Inklusion weit mehr als eine rechtliche Vorgabe. „Wirklich anstrengend sind die auffälligen Kinder, die nicht von der Förderschule kommen“, sagte eine Lehrerin, die weiß wovon sie spricht.