Nach dem grausamen Schulmassaker von Newtown mit 27 Toten steht Amerika unter Schock und sucht verzweifelt nach Erklärungen. Eltern der erschossenen Kinder wenden sich in ihrem Schmerz an die Öffentlichkeit.

Newtown - Als gewiss war, dass seine Tochter Emilie nicht mehr lebte, ging Robert Parker nach Hause zu seinen anderen beiden Mädchen – wortlos, starr, seine schluchzende Frau Alissa umarmend. An diesem Nachmittag senkte sich dröhnende Stille über das Neu-England-Städtchen Sandy Hook, einem Teilort von Newtown. Die Geschäfte und Kneipen sperrten zu, die Menschen suchten Zuflucht in ihrem Heim oder in der Kirche am Ortseingang. Der Pfarrer Mel Kawakami ließ seine Pforten geöffnet, um den Leuten seiner Gemeinde einen Ort zu geben, wo sie sich Trost spenden konnten. Für eine Ansprache fehlten auch dem Pfarrer die Worte.

 

Doch 24 Stunden, nachdem der Todesschütze Adam Lanza mit drei automatischen Handfeuerwaffen 27 Menschen erschossen hat, findet Robert Parker seine Stimme wieder, weil die Tochter nicht umsonst gestorben sein darf. Das Bild des lächelnden Mädchens mit den blonden Haaren und den blauen Augen kennt in den USA inzwischen fast jeder. Parker tritt, gestützt von Angehörigen, vor die Presse und erzählt. „Sie war die Art von Mensch, der in einem Raum die Sonne aufgehen ließ. „Sie ist ein unglaublicher Mensch, und ich bin gesegnet, dass ich ihr Vater sein darf. Es ist eine schreckliche Tragödie, und ich möchte, dass alle wissen, dass wir in unseren Herzen und Gebeten bei ihnen sind. Das gilt auch für die Familie des Schützen“, so Parker. Die großherzige Geste hätte seine Tochter so gewollt. „Meine Tochter Emilie wäre eine der Ersten, die all diesen Opfern ihre Liebe und Unterstützung geben würde.“ Emilie wurde nur sechs Jahre alt.

Justin Cherry war gerade selbst in der Schule, als die Tragödie ihren Lauf nahm. Er ist 17 Jahre alt und macht im Frühjahr seinen Abschluss an der Highschool von Sandy Hook, die keinen halben Kilometer von der Grundschule entfernt liegt. An diesem Samstag steht er mit einem guten Dutzend anderer Anwohner vor der Sandy Hook Elementary School, einer Holzbarracke an einer ruhigen Wohnstraße. Innen liegen noch immer Leichen, die Polizei ist mit ihrer Spurensicherung noch nicht fertig. Das Gelände ist mit gelben Bändern abgesperrt.

Die Menschen sind gekommen, weil sie versuchen wollen zu begreifen, was hier passiert ist und was sich doch nicht begreifen lässt. Und um ein Ventil für ihre Gefühle zu finden, mit denen sie alleine in ihren Heimen nicht zurechtkommen. Justin etwa wird vom Zorn gepackt, wenn er anfängt über den Tag nachzudenken. „Es ist nicht fair“, sagt er mit Tränen in den Augen, „dass dieser Typ sich selbst erschossen hat. Das war feige.“

Justins Schule wurde sofort abgeriegelt, als die ersten Meldungen über Schüsse an der Grundschule nach außen drangen, so, wie es seit den Massakern von Colombine und Virginia Tech im ganzen Land Vorschrift ist. Trotzdem nahmen Justin und seine Freunde die Sache anfangs nicht besonders ernst. „Wir dachten, da hat sich einer in den Fuß geschossen oder so.“ Erst als in den quälenden Stunden des Eingesperrtseins immer mehr Meldungen über Todesopfer auf den Smartphones der Jungs eintrafen, bekamen sie es mit der Angst zu tun. „Plötzlich dachten wir, der kommt vielleicht auch noch zu uns.“

Die ersten Details dessen, was sich in der Zwischenzeit in der Sandy Hook Elementary School zugetragen hat, werden erst am Samstagnachmittag bekannt. Gegen 15 Uhr tritt mit fahlem Gesicht Wayne Carver, der oberste Gerichtsmediziner des Staates Connecticut, am Sportplatz von Sandy Hook vor die mittlerweile in Hundertschaftsstärke angerückte Presse und erzählt stockend, was er in den vorangegangenen Stunden herausgefunden hat. Der Schütze Adam Lanza war bei seinem Massaker äußerst brutal vorgegangen. Bis zu elf Kugeln pumpte er mit seinem halbautomatischen Gewehr in die Opfer, nachdem er sich gewaltsam Zutritt zu der gesicherten Schule verschafft hatte. Eine Stunde lang wütete er, bis er sich erschoss. „Das ist das Härteste, was ich in den 30 Jahren meiner Amtszeit erleben musste“, sagt Carver.

Auch die Lehrerin Kaitlin Roig ist am Samstag von dem Erlebten noch zutiefst verstört. Trotzdem bringt sie die Kraft auf, einer Gruppe von Reportern in knappen, flachen Worten zu erzählen, was sie erlebt hat. „Ich dachte, wir werden alle sterben“, sagt sie. Trotzdem versuchte sie die Kinder ihrer Klasse, so gut es ging, zu beruhigen. Sie schloss sich mit ihren Schülern in einer Toilette ein, stellte ein Regal vor die Tür und sagte: „Da sind böse Leute da draußen. Wir müssen jetzt auf die guten warten.“

Der Polizist Chris Vadas aus dem Nachbarort Redding hatte eigentlich frei am Freitag, als er zum Einsatz gerufen wurde. Vadas wurde abkommandiert, den Sanitätern zu helfen, die an der Feuerwache von Sandy Hook die Opfer in Empfang nahmen. An Details kann er sich einen Tag später, während er den immer dichter werdenden Verkehr auf den wenigen Straßen von Sandy Hook regelt, kaum erinnern. Sein Gedächtnis scheint ihm das vorläufig noch zu ersparen. Nur eines ist bei ihm haften geblieben und will ihm nicht mehr aus dem Sinn gehen: der schwere, schlaffe Körper eines sechs Jahre alten Jungen, den er auf eine Bahre heben musste.

Das Schlimmste, sagt Vadas, sei jedoch, dass einfach nicht zu verstehen sei, was da passiert. „Warum nur hat dieser Junge das gemacht?“ Das will zwei Tage nach dem Massaker die ganze Welt wissen.

Bis jetzt weiß man, dass Adam Lanza alleine bei seiner Mutter lebte. Die Ehe der Lanzas war vor zehn Jahren zerbrochen, der Vater lebt mit einer neuen Lebensgefährtin in Stamford, einer Industriestadt, 70 Kilometer von Sandy Hook entfernt. Adams großer Bruder Ryan, der erst fälschlich als der Täter identifiziert worden war, arbeitet als Finanzfachmann in Manhattan. Was man noch weiß, ist, das Adam Lanza unter einer Persönlichkeitsstörung litt, nach Angaben verschiedener Leute aus dem Ort, die ihn kannten, unter dem Asperger Syndrom. Asperger ist eine milde Form des Autismus. Daran erkrankte Menschen sind meist durchschnittlich intelligent, haben jedoch große Schwierigkeiten, Beziehungen einzugehen. „Wenn man Adam anschaute, war nie eine Regung abzulesen“, erinnerte sich ein ehemaliger Klassenkamerad. Zudem war er ausgesprochen fotoscheu, nicht einmal im Jahrbuch seiner Schule ist er abgebildet. Außerdem lässt sich im Ort niemand auftreiben, der mit ihm in enger Verbindung stand. Er war wohl ein Einzelgänger, zutiefst isoliert.

Vielleicht konnte Adam Lanza die Trennung seiner Eltern schlechter verkraften, als das ein völlig gesunder Junge gekonnt hätte? Vielleicht hat er sich in seiner Isolation in eine irre Parallelwelt hineingesteigert? Man weiß es nicht.

Fest steht, dass die Lanzas bis zum Freitag ein unauffälliges Leben geführt haben. Ihr Haus liegt in Bennett Farm, einem ruhigen Wohnviertel in den Hügeln oberhalb von Sandy Hook. An geschwungenen Zufahrten stehen prachtvoll restaurierte Kolonialvillen, die großen Rasenflächen sind penibel gepflegt. Nur wenige Blätter sind darauf zu sehen. Hier oben in der Yogananda Street Nummer 36, nahm am Freitag früh das Drama seinen Lauf. Bevor Adam Lanza sich ins Auto setzte und mit drei Waffen im Gepäck hinunter ins Dorf fuhr, erschoss er im Wohnzimmer seine Mutter, die 52 Jahre alte Nancy Lanza.

Die Nachbarn bekamen davon nichts mit. Jim McDade, der drei Häuser weiter wohnt, wunderte sich am Freitag darüber, dass plötzlich Polizeiwagen in der Yogananda Street auftauchten. „Ich habe im Fernsehen die Berichte von der Schießerei im Ort gesehen und dachte nur, was wollen die denn hier oben?“ McDade kannte die Lanzas, „wie man eben Nachbarn kennt“, sagt er. Nancy Lanza beschreibt er als „zauberhafte, herzliche Frau.“ Adam sei still, aber freundlich gewesen. Dass nur Meter von seiner Haustür entfernt eine Zeitbombe tickt, hat er nie geahnt. Ebenso wenig, dass Nancy Lanza offenbar eine beeindruckende Waffensammlung in ihrem Wohnzimmer hatte und zum Freizeitvergnügen in einer der vielen Schießanlagen der Gegend auf Zielscheiben ballerte. Mit ihren Waffen verübte der Sohn das zweitgrößte Schulmassaker der US-Geschichte.

Das Shooters in New Milford, zehn Kilometer von Sandy Hook entfernt, ist so eine Schießbahn. Sie liegt in einem jener gesichtslosen Einkaufszentren, die sich in Amerika an den Zufahrtsstraßen zu Wohnorten entlangziehen, flankiert von einem Baumarkt und einem McDonald’s. Der Verkaufsraum sieht aus wie ein Armeearsenal. In den Vitrinen rund um den langen Raum sind Hunderte von Pistolen aller Kaliber ausgestellt wie Colliers beim Juwelier.

Aus dem Hinterzimmer hört man ein stetes Pop, Pop, Pop, der Parkplatz vor dem Laden ist voll. Ein junges Paar steigt aus seinem SUV aus, die Waffentasche unter dem Arm. Darin ist eine Glock, die Marke, die Adam Lanza bei sich trug. Ihren Samstagsspaß wollen sich die jungen Leute von der Tragödie in Sandy Hook nicht verderben lassen, „das hat doch mit uns nichts zu tun“. Der Besitzer des Shooters, John Giannettino, schützt Pietät vor. Jedenfalls, wenn man ihn darauf anspricht, was er von strengeren Waffengesetzen hält. „Heute ist nicht der Tag, um zu politisieren“, meint er. „Heute ist der Tag, um zu trauern.“ Giannettino hatte sogar am Freitag seinen Laden geschlossen, für einen Nachmittag.