Mehr Tempo könnte einigen Dokumentationen nicht schaden.


Das wird aber dann gefährlich, wenn man die Realität so zurechtbiegen muss, dass sie in einer Richtung funktionieren soll. Dabei ist es genau das, was Dokumentationen leisten sollen: Das langsame Entwickeln, das genaue Hinschauen auf etwas, was sich nicht sofort eindeutig präsentiert.

Heißt das, dass die gescripteten Formate nach der Dokusoap auch die Dokumentation kaputtmachen könnten?


Nicht von heute auf morgen. Es ist ein schleichender Prozess, wenn sich Sehgewohnheiten ändern. Ich glaube, dass die Öffentlich-rechtlichen deshalb genau das Gegenteil tun und ihrem Bildungsauftrag nachkommen müssten, statt neuen Verlockungen auf den Leim zu gehen.

Der NDR ist jetzt schon wieder zurückgerudert und hat betont, dass es ihm nicht darum geht, Formate wie die "Verdachtsfälle" zu kopieren. Geschichten aus dem Alltag sollten mit Schauspielern nachgespielt werden. Der NDR nennt das "Reenactment". Ein Teilerfolg für die Dokumentarfilmer?


Ich fand es positiv, dass sich der NDR-Programmdirektor Frank Beckmann von der trashigen Machart der RTL- und Sat-1-Produktionen distanziert hat. Er hat aber gesagt, es dürfe keine Denkverbote geben. Für uns Filmemacher bedeutet das: wir müssen sehr genau beobachten, wohin die Entwicklung geht.

"Scripted Reality" hin, "Reenactment" her: ist das nicht Wortklauberei?


Ja, aber genau da sind wir wieder bei der Frage: in welcher Qualität werden diese Formate produziert? Was dürfen sie kosten? Leistet man sich Kleindarsteller, die in der Lage sind, fünf Textzeilen auswendig zu lernen? Oder setzt man auf Laien und den emotionalen Reflex? Qualität ist immer teurer.

Können Sie ein Beispiel geben?


Dreißig Sendeminuten einer gescripteten Dokusoap kosten ungefähr 30.000 Euro. Ein fiktionales Format in derselben Länge kostet das Zehn- bis Dreißigfache, und ein abendfüllender Dokumentarfilm bei guter Recherche das Zwanzigfache.

So teuer?


Dokumentarfilme sind sehr rechercheintensiv. Die Vorbereitung dauert in der Regel ein bis zwei Jahre. So lange braucht man gerade bei persönlicheren Stoffen, um Vertrauen zu den Protagonisten aufzubauen. Das erfordert Fingerspitzengefühl. Dieser Aufwand wurde von den Sendern bislang aber nicht bezahlt.