Sebastian Hartmann inszeniert im Stuttgarter Schauspielhaus „Im Stein“ nach dem Roman von Clemens Meyer. Was der Regisseur filmisch auf die Bühne kübelt, ist eine Höllenfahrt in die Abgründe der Rotlichtbezirke – mit Ausflügen ins Paradies.

Stuttgart - Der Mensch ist so beschaffen, dass er sich an Höhepunkte lange erinnert. Welcher Art sie waren, spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Höhepunkte können nämlich auch von quälender Ödnis gewesen sein, so wie im vergangenen Herbst, als Sebastian Hartmann seinen „Staub“ ins Schauspielhaus wedelte: eine Inszenierung voller Zitate aus anderen Inszenierungen, eine billige theatralische Resteverwertung also, mit der er das für hinterwäldlerisch gehaltene Stuttgarter Publikum bis nach Mitternacht abspeisen wollte. Der Höhepunkt als Gipfel der Unverschämtheit – und genau darauf spielt der Regisseur ein halbes Jahr später mit ironischem Trotz an, wenn er jetzt eine Bühnenfigur sagen lässt: „Wir machen ja modernes Theater, wir haben die ganze Nacht Zeit“, was im Publikum vereinzelte Lacher auslöst, bei den Nichtlachern aber auch die Erinnerung an alte Theaterqualen, die auf einen neuen Rekord zusteuern könnten.

 

Nun, es kann Entwarnung gegeben werden. Zumindest halb. Der neue Hartmann-Abend reicht mit seinen vier Stunden zwar fast an die fünf des alten heran, hat aber – trotz abermals unabweisbarer Längen – einiges an Substanz zu bieten. Seine Inszenierung fühlt sich an wie eine Höllenfahrt, deren Treibstoff psychedelische Drogen sind. Sie führt, nein, sie reißt uns sogar passagenweise in einen wüst popfarbenen LSD-Trip hinein, in einen taumelnden Rausch voller Gewalt, Gier und Geilheit, angesiedelt irgendwo zwischen Porno, Puff und Poesie. Mit konventionellem Theater freilich hat die exzessive Veranstaltung nichts mehr zu tun: Nur wenige Szenen ereignen sich unmittelbar vor den Augen des Publikums, der Rest wird mittels Kamera aus einem geschlossenen, im Spielraum stehenden Kubus live übertragen und auf dessen Außenwände projiziert. Die Inszenierung ist mithin ein Film, Drehbühne im Dauereinsatz inklusive.

Ausflüge ins Biblisch-Mythische

Gespielt und gedreht wird „Im Stein“ nach dem Roman des Leipziger Autors Clemens Meyer. Als das 550-Seiten-Trumm vor zwei Jahren erschienen ist, jubelte die Literaturkritik. Von einem „flirrenden Großstadtepos“ war die Rede, von einem „aufwühlenden Stimmenchor aus dem Halbschatten eines der mächtigsten Wirtschaftszweige des Landes“ ebenso wie vom „Schwindel erregenden, wunderschönen Buch über eines der ältesten Gewerbe der Welt“. Für seinen Roman hat Meyer zwar gründliche Recherchen im Rotlicht- und Halbweltmilieu seiner Heimatstadt unternommen, aber er huldigt darin keinem platten Realismus – und genau da, an der surrealen Überhöhung von Motiven und Details, an ihrer kühnen Steigerung ins Biblisch-Mythische, dockt auch die Bühnenadaption von Sebastian Hartmann an. Die schon im Buch mit präziser Grausamkeit geschilderten Details aus dem Milieu unterschlägt er dabei keineswegs, weshalb man im Schauspielhaus auch gerne mal weghören und wegsehen möchte. Geht aber nicht immer, denn manche der Szenen entwickeln einen unwiderstehlichen Sog.

Noch bevor die Reise beginnt, leuchten auf der Außenhaut des kreisenden Bühnenwürfels die Gemälde alter Meister auf. Bruegel, Caravaggio, Goya, dazu ein fernes Wimmern und Jaulen und Heulen, wie es nur aus dem Totenreich in die Gegenwart wehen kann. Dann die ersten Sätze von Manolo Bertling, gesprochen aus dem titelgebenden Stein heraus, den der Würfel darstellt, von der Kamera aber gnädig aus dieser Versteinerung befreit: schwarze Flügel am Rücken, zitiert Bertling die Sage von Orpheus, der in die Unterwelt reist, um seine geliebte Eurydike zu retten – und wenn sein Bild auf der Leinwand überblendet wird mit Caravaggios „Amor als Sieger“, erzielt Hartmann nicht nur visuelle, sondern auch verblüffende intellektuelle Effekte. Er reißt Assoziationsräume zwischen Liebe und Tod, Eros und Thanatos auf und steckt derart das Feld ab, über das Orpheus fortan fliegen wird bei seinem kleinen Grenzverkehr zwischen Unter- und Oberwelt.

Auf Schmerz folgt Scherz

Getragen von breit fließender sinfonischer Musik – Gluck? Wagner? Mahler? –, klebt der schwarze Orpheus-Engel irgendwann auch an den Außenscheiben des Studios, in dem die Netzradio-Sendung „Eckis Edelkirsch“ produziert wird. Ecki ist ein Pufftester und sagt den Freiern, welche Angebote welches Bordell zur Verfügung stellt. Dieser muntere, von Holger Stockhaus virtuos gespielte Dampfplauderer der Obszönitäten ist es auch, der den eingangs zitierten Satz vom modernen Theater, dem keine Stunde schlägt, ins Mikrofon frohlockt. Denn heute muss sich Ecki für seinen Studiogast etwas Zeit nehmen. Der Alte vom Berg ist da, ein Bordellbesitzer im quietschbunten Morgenmantel, der den öffentlichen Auftritt zur Reinwaschung nutzt. „Zuhälterring, Bündnisse mit der Polizei, Behörden?“, fragt Ecki aufgekratzt. Nichts da, erwidert der Rotlichtkönig, dem Horst Kotterba eine Ballermann-Aura gibt, bei ihm sei alles transparent, Umsatz, Gewinne, überhaupt.

Natürlich ist dem nicht so. Wie Meyer führt uns auch Hartmann in ein Dickicht des Verbrechens, das aus Menschenhandel und Kinderprostitution, Grundstücksgeschäften und Diamantenschmuggel besteht. Und wie im Roman werden auch auf der Bühne die unzähligen Handlungsstränge nicht zu Ende geführt, sie bleiben lose in der Luft hängen und bilden nichts Ganzes und nichts Halbes. Auf Schmerz folgt Scherz, auf Schießereien mit tödlichem Ausgang die Krimiparodie mit Inspektor Clouseau – und doch erzeugt Hartmann über weite Strecken eine ungeheuer beklemmende, von Müdigkeit getragene Atmosphäre, die er seiner filmischen Vorgehensweise zu verdanken hat. Der Wechsel von Zeiten, Räumen und Identitäten, erzeugt durch Überblendungen und Überlagerungen, unterstützt von einem situativen Soundtrack, der die Sinfonie auch mal hinter sich lässt und über Popschnulzen beim Billigtechno in der Disco landet: es ist wahrlich eine albtraumhafte Schöpfung, die Hartmann auf die Bühne kübelt, mit nackten, blutbesudelten Leibern von Bandenchefs, Zuhältern und Prostituierten, die sich unter Qualen krümmen, bevor ihre Leichen mühevoll – auch das kommt vor „Im Stein“ – zerstückelt werden.

Das Schlusswort der Hure

Aus den Schwefelschwaden der Hölle steigt freilich auch immer wieder ihr Gegenteil auf. Eine Ahnung vom Himmel, eine Sehnsucht nach dem Paradies, etwa dann, wenn Orpheus schlafwandlerisch unterwegs ist und das Leid der Huren mit Psalmen aus der Bibel kommentiert – oder wenn diese Huren selbst das „Hohelied“ Salomos singen und die Liebe zwischen Mann und Frau preisen, von der sie als Sexarbeiterinnen nur träumen können.

Kurz vorm Finale geht im Schauspielhaus das Saallicht an. Das Ensemble setzt sich erschöpft an die Rampe und lauscht Birgit Unterweger, die von ihrem letzten Kunden berichtet: „Du bist nicht mal zehn Minuten weg, schon habe ich vergessen, wie du aussiehst“, sagt sie von dem Jungen, der sie küssen wollte und für den sie Muttergefühle entwickelt hat. Leise und eindringlich ist dieses Schlusswort der Hure. Dann Schweigen – und schließlich ein gemischtes Konzert aus Buhs und Bravos, das sich der zu lang geratene, aber doch auch überwältigende Filmbühnensteintrip redlich verdient hat. Im Nachtprogramm von Arte jedenfalls würde er bei David-Lynch-Fans großes Entzücken auslösen.