Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Dieses Versprechen findet sich in vielen Wahlprogrammen: 73-mal in dem der SPD, aber nur neunmal in dem der FDP. „Teils widersprüchliche, teils einander ergänzende oder voraussetzende Gerechtigkeitskonzepte verschmelzen häufig bis zur Ununterscheidbarkeit“, urteilt der Frankfurter Soziologe Stefan Hradil. Maßgeblich sei „viel eher ein Gefühl als eine exakte Definition“. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Schlagwort um eine der meistgebrauchten Vokabeln des politischen Meinungsstreits. Wahlkämpfe ohne „soziale Gerechtigkeit“ sind schlechterdings nicht vorstellbar. Michael Borchard, Politikwissenschaftler bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, sagt: „Nur wenige Begriffe entwickeln eine solche Verheißungskraft, sind als programmatische Monstranz oder polemischer Vorwurf politisch so wirkmächtig und doch bei Lichte betrachtet zugleich so unklar in ihrer Aussagekraft.“

 

Es gibt Leute, die soziale Gerechtigkeit schlichtweg für eine Fiktion halten: eine Fata Morgana. So nannte es der einst in Freiburg lehrende Ökonom Friedrich August von Hayek. Er bezeichnete diesen Zentralbegriff des politischen Wettbewerbs als „Wieselwort“. Die kleinen, flinken Nagetiere, auf die er anspielt, saugen Vogeleier aus und lassen die leere, nur noch scheinbar intakte Hülle zurück. Um ein ähnliches Phänomen handle es sich auch bei der sozialen Gerechtigkeit, so Hayek. Die meisten Menschen hätten keinen Begriff davon, glaubten aber unverdrossen daran, weil sie der Vorstellung anhingen, „dass etwas daran sein müsse, wenn fast alle anderen daran glaubten“, schrieb der Nobelpreisträger. Die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit entspringe steinzeitlichem Denken, vertrage sich nicht mit den Regeln einer Marktwirtschaft. Hayek vertrat die Ansicht, „dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat“.

Eine Mehrheit glaubt, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht

Solche Sätze wären heute nicht einmal in der FDP noch mehrheitsfähig. Umfragen ergeben ein sehr uneinheitliches Bild vom Gerechtigkeitsempfinden der Bundesbürger. Demnach glauben 68 Prozent, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht. Das haben die Demoskopen des Instituts Allensbach im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung herausgefunden. Unter den Anhängern der Linkspartei sind 76 Prozent von allgemeiner Ungerechtigkeit überzeugt, unter denen der AfD 82 Prozent. Diese Zahlen stammen von Infratest dimap. Der Frankfurter Soziologe Wolfgang Glatzer verweist auf den Umstand, „dass zwischen den von der breiten Bevölkerung gefühlten Lebensverhältnissen und dem, was Medien, Wissenschaftler, Manager und Politiker als Realität definieren, teilweise große Unterschiede bestehen“. Die persönlichen Umstände würden häufig gerechter beurteilt als die gefühlte Lage. „Mir geht es gut – aber diese Gesellschaft ist ungerecht und wird zunehmend ungerechter“, so fasste „Der Spiegel“ eine Allensbach-Umfrage vom September 2016 zusammen. Demnach bewerteten 75 Prozent die eigene Lebensqualität positiv – ungeachtet einer gefühlten pauschalen Ungerechtigkeit.