Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Ist Gerechtigkeit messbar? Jedenfalls wurden schon viele Formeln dafür erfunden: das Atkinson-Maß, der Kakwani-Index oder die Hoover-Zahl. Der bekannteste unter diesen sogenannten Ungleichverteilungsmaßstäben ist der Gini-Koeffizient. Er trägt den Namen des italienischen Statistikers Corrado Gini, der sich das ausgedacht hat. Der Gini-Koeffizient bewegt sich zwischen null und hundert. Läge er bei null, würde das bedeuten, dass Einkommen oder Vermögen exakt gleich verteilt sind. Der andere Extremwert wäre erreicht, wenn ein einziger Mensch alles besitzt. Die Vereinten Nationen beziffern den Gini-Koeffizienten für Deutschland mit 29,16. In Frankreich (28,68) würde es folglich ein bisschen gerechter zugehen, in Norwegen (25,14) und Schweden (24,06) sogar deutlich gerechter. Ein Hort der Ungerechtigkeit ist Lateinamerika, wo diese Kennziffer durchweg über 50 liegt. Eine andere Art von Gerechtigkeitsarithmetik betreibt die Bertelsmann-Stiftung. Ihr Social-Justice-Index für die Europäische Union liegt im Durchschnitt bei 5,75. Schweden rangiert mit 7,51 an der Spitze der Gerechtigkeits-Hitliste. Deutschland bewegt sich mit 6,66 im oberen Mittelfeld. Am ungerechtesten geht es demnach in Bulgarien (4,03), Rumänien (3,91) und Griechenland (3,66) zu.

 

Taugt der Big Mac als Maßstab der Gerechtigkeit?

Das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ misst Gerechtigkeit in Brötchen und Fleischklopsen. Sie nennt das Ganze den „Big-Mac-Index“. Er gibt an, wie groß die Kaufkraft in Burger umgerechnet ist. Nach diesem Gradmesser erscheinen Sozialleistungen und Löhne weltweit in völlig neuem Licht. Demzufolge herrschen in Deutschland beinahe mustergültige Verhältnisse. Der Mindeststundenlohn hierzulande sei 2,4 Big Macs wert, in den Vereinigten Staaten nur anderthalb, in Russland und Brasilien gerade einmal 0,3.

Gerechtigkeit lässt sich aber nicht in Euro und Cent ummünzen. Sie müsse sich stärker am Grundsatz der Befähigung ausrichten, sagt Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Er nimmt Bezug auf den indischen Philosophen Amartya Sen, der sich wiederum auf die Gerechtigkeitstheorie von Rawles beruft. Gerechtigkeit ist Sen zufolge weniger eine Frage des Lebensstandards als der Verwirklichungschancen. Wer nur auf Verteilungsgerechtigkeit fixiert sei, die sich an materiellen Werten bemesse, unterliege einem wohlfeilen „Warenfetischismus“.

Was ist gerecht an einem Espresso?

Letztlich ist Gerechtigkeit immer eine Frage der Perspektive, der Dimension und der jeweiligen Maßstäbe. Auch dies lässt sich mit Umfrageergebnissen illustrieren. So machen viele die vermeintliche Ungerechtigkeit in Deutschland an der Kluft zwischen aufgeblähten Managergehältern und dem durchschnittlichen Lohnniveau fest. Nur eine Minderheit fände es allerdings gerecht, Mitbürgern mehr Geld zu geben, die von Hartz IV leben. Gerechte Renten zu versprechen war schon immer ein Wahlkampfschlager. Aber ist es denn gerecht, den nachfolgenden Generationen deswegen ungedeckte Schecks zu hinterlassen?

Taugt das Gütesiegel „gerecht“ für ein Steuermodell wie jenes der Marke Martin Schulz, das die Schicht, die ohnehin schon am meisten zahlt, noch stärker zur Kasse bitten will? Ist es gerecht, dass bei uns Zehntausende Lehrstellen unbesetzt bleiben, während in Spanien jeder Zweite unter 25 keinen Job findet? Was verrät es über unser Gerechtigkeitsempfinden, wenn hier sich jedermann einen Espresso in der Mittagspause leisten kann, die Kaffeebauern von den 1,95 Euro, die ein Tässchen bei Starbucks kostet, aber nicht einmal einen Zehntelcent abbekommen? Klamottenläden, in denen es T-Shirts unter zehn Euro gibt, mögen Leuten, die nur Mindestlohn verdienen, wie eine soziale Einrichtung vorkommen. Doch was ist gerecht daran, wenn Näherinnen in Myanmar, die solche T-Shirts herstellen, mit dem deutschen Mindeststundenlohn eine ganze Woche auskommen müssen?

Das klingt vielleicht wie ein frommer Wunsch – oder wie das Geheimrezept des rheinischen Kapitalismus. Rawles braucht 638 Seiten, um seine „Theorie der Gerechtigkeit“ zu entfalten. Kompliziert ist das auch, weil es nicht eine universelle Gerechtigkeit gibt, sondern viele Facetten davon. Soziologen unterscheiden einen ganzen Katalog von Gerechtigkeiten: von der Bedarfsgerechtigkeit über Chancen-, Generationen-, Leistungs- und Regelgerechtigkeit bis zur Verteilungsgerechtigkeit. In unseren Wahlkämpfen geht es meist um eine Mixtur davon, die unter dem Etikett „soziale Gerechtigkeit“ vermarktet wird.

Viele halten soziale Gerechtigkeit schlicht für eine Fiktion

Dieses Versprechen findet sich in vielen Wahlprogrammen: 73-mal in dem der SPD, aber nur neunmal in dem der FDP. „Teils widersprüchliche, teils einander ergänzende oder voraussetzende Gerechtigkeitskonzepte verschmelzen häufig bis zur Ununterscheidbarkeit“, urteilt der Frankfurter Soziologe Stefan Hradil. Maßgeblich sei „viel eher ein Gefühl als eine exakte Definition“. Gleichwohl handelt es sich bei diesem Schlagwort um eine der meistgebrauchten Vokabeln des politischen Meinungsstreits. Wahlkämpfe ohne „soziale Gerechtigkeit“ sind schlechterdings nicht vorstellbar. Michael Borchard, Politikwissenschaftler bei der Konrad-Adenauer-Stiftung, sagt: „Nur wenige Begriffe entwickeln eine solche Verheißungskraft, sind als programmatische Monstranz oder polemischer Vorwurf politisch so wirkmächtig und doch bei Lichte betrachtet zugleich so unklar in ihrer Aussagekraft.“

Es gibt Leute, die soziale Gerechtigkeit schlichtweg für eine Fiktion halten: eine Fata Morgana. So nannte es der einst in Freiburg lehrende Ökonom Friedrich August von Hayek. Er bezeichnete diesen Zentralbegriff des politischen Wettbewerbs als „Wieselwort“. Die kleinen, flinken Nagetiere, auf die er anspielt, saugen Vogeleier aus und lassen die leere, nur noch scheinbar intakte Hülle zurück. Um ein ähnliches Phänomen handle es sich auch bei der sozialen Gerechtigkeit, so Hayek. Die meisten Menschen hätten keinen Begriff davon, glaubten aber unverdrossen daran, weil sie der Vorstellung anhingen, „dass etwas daran sein müsse, wenn fast alle anderen daran glaubten“, schrieb der Nobelpreisträger. Die Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit entspringe steinzeitlichem Denken, vertrage sich nicht mit den Regeln einer Marktwirtschaft. Hayek vertrat die Ansicht, „dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat“.

Eine Mehrheit glaubt, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht

Solche Sätze wären heute nicht einmal in der FDP noch mehrheitsfähig. Umfragen ergeben ein sehr uneinheitliches Bild vom Gerechtigkeitsempfinden der Bundesbürger. Demnach glauben 68 Prozent, dass es in Deutschland nicht gerecht zugeht. Das haben die Demoskopen des Instituts Allensbach im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung herausgefunden. Unter den Anhängern der Linkspartei sind 76 Prozent von allgemeiner Ungerechtigkeit überzeugt, unter denen der AfD 82 Prozent. Diese Zahlen stammen von Infratest dimap. Der Frankfurter Soziologe Wolfgang Glatzer verweist auf den Umstand, „dass zwischen den von der breiten Bevölkerung gefühlten Lebensverhältnissen und dem, was Medien, Wissenschaftler, Manager und Politiker als Realität definieren, teilweise große Unterschiede bestehen“. Die persönlichen Umstände würden häufig gerechter beurteilt als die gefühlte Lage. „Mir geht es gut – aber diese Gesellschaft ist ungerecht und wird zunehmend ungerechter“, so fasste „Der Spiegel“ eine Allensbach-Umfrage vom September 2016 zusammen. Demnach bewerteten 75 Prozent die eigene Lebensqualität positiv – ungeachtet einer gefühlten pauschalen Ungerechtigkeit.

Führt Gerechtigkeitsarithmetik weiter?

Ist Gerechtigkeit messbar? Jedenfalls wurden schon viele Formeln dafür erfunden: das Atkinson-Maß, der Kakwani-Index oder die Hoover-Zahl. Der bekannteste unter diesen sogenannten Ungleichverteilungsmaßstäben ist der Gini-Koeffizient. Er trägt den Namen des italienischen Statistikers Corrado Gini, der sich das ausgedacht hat. Der Gini-Koeffizient bewegt sich zwischen null und hundert. Läge er bei null, würde das bedeuten, dass Einkommen oder Vermögen exakt gleich verteilt sind. Der andere Extremwert wäre erreicht, wenn ein einziger Mensch alles besitzt. Die Vereinten Nationen beziffern den Gini-Koeffizienten für Deutschland mit 29,16. In Frankreich (28,68) würde es folglich ein bisschen gerechter zugehen, in Norwegen (25,14) und Schweden (24,06) sogar deutlich gerechter. Ein Hort der Ungerechtigkeit ist Lateinamerika, wo diese Kennziffer durchweg über 50 liegt. Eine andere Art von Gerechtigkeitsarithmetik betreibt die Bertelsmann-Stiftung. Ihr Social-Justice-Index für die Europäische Union liegt im Durchschnitt bei 5,75. Schweden rangiert mit 7,51 an der Spitze der Gerechtigkeits-Hitliste. Deutschland bewegt sich mit 6,66 im oberen Mittelfeld. Am ungerechtesten geht es demnach in Bulgarien (4,03), Rumänien (3,91) und Griechenland (3,66) zu.

Taugt der Big Mac als Maßstab der Gerechtigkeit?

Das britische Wirtschaftsmagazin „The Economist“ misst Gerechtigkeit in Brötchen und Fleischklopsen. Sie nennt das Ganze den „Big-Mac-Index“. Er gibt an, wie groß die Kaufkraft in Burger umgerechnet ist. Nach diesem Gradmesser erscheinen Sozialleistungen und Löhne weltweit in völlig neuem Licht. Demzufolge herrschen in Deutschland beinahe mustergültige Verhältnisse. Der Mindeststundenlohn hierzulande sei 2,4 Big Macs wert, in den Vereinigten Staaten nur anderthalb, in Russland und Brasilien gerade einmal 0,3.

Gerechtigkeit lässt sich aber nicht in Euro und Cent ummünzen. Sie müsse sich stärker am Grundsatz der Befähigung ausrichten, sagt Georg Cremer, Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Er nimmt Bezug auf den indischen Philosophen Amartya Sen, der sich wiederum auf die Gerechtigkeitstheorie von Rawles beruft. Gerechtigkeit ist Sen zufolge weniger eine Frage des Lebensstandards als der Verwirklichungschancen. Wer nur auf Verteilungsgerechtigkeit fixiert sei, die sich an materiellen Werten bemesse, unterliege einem wohlfeilen „Warenfetischismus“.

Was ist gerecht an einem Espresso?

Letztlich ist Gerechtigkeit immer eine Frage der Perspektive, der Dimension und der jeweiligen Maßstäbe. Auch dies lässt sich mit Umfrageergebnissen illustrieren. So machen viele die vermeintliche Ungerechtigkeit in Deutschland an der Kluft zwischen aufgeblähten Managergehältern und dem durchschnittlichen Lohnniveau fest. Nur eine Minderheit fände es allerdings gerecht, Mitbürgern mehr Geld zu geben, die von Hartz IV leben. Gerechte Renten zu versprechen war schon immer ein Wahlkampfschlager. Aber ist es denn gerecht, den nachfolgenden Generationen deswegen ungedeckte Schecks zu hinterlassen?

Taugt das Gütesiegel „gerecht“ für ein Steuermodell wie jenes der Marke Martin Schulz, das die Schicht, die ohnehin schon am meisten zahlt, noch stärker zur Kasse bitten will? Ist es gerecht, dass bei uns Zehntausende Lehrstellen unbesetzt bleiben, während in Spanien jeder Zweite unter 25 keinen Job findet? Was verrät es über unser Gerechtigkeitsempfinden, wenn hier sich jedermann einen Espresso in der Mittagspause leisten kann, die Kaffeebauern von den 1,95 Euro, die ein Tässchen bei Starbucks kostet, aber nicht einmal einen Zehntelcent abbekommen? Klamottenläden, in denen es T-Shirts unter zehn Euro gibt, mögen Leuten, die nur Mindestlohn verdienen, wie eine soziale Einrichtung vorkommen. Doch was ist gerecht daran, wenn Näherinnen in Myanmar, die solche T-Shirts herstellen, mit dem deutschen Mindeststundenlohn eine ganze Woche auskommen müssen?