Serbiens Premier Aleksandar Vucic hofft nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs auf Versöhnung. „Für alle in der Region ist es wichtig, Kriegsverbrechen zu untersuchen, sie gerichtlich zu verfolgen und die Verbrecher zu bestrafen“, sagt er.

Stuttgart - Der Internationale Gerichtshof hat Serbien und Kroatien vom Vorwurf des Völkermordes freigesprochen. Das Urteil sei eine „ Chance für die gesamte Region“, sagt Serbiens Premier Aleksandar Vucic. Er hofft auf die Versöhnung der ehemaligen Kriegsparteien. „Für alle in der Region, nicht nur für die Serben, ist es wichtig, Kriegsverbrechen zu untersuchen, sie gerichtlich zu verfolgen und die Verbrecher zu bestrafen“, betont der serbische Regierungschef.

 
Herr Ministerpräsident, glauben Sie, dass dieses Urteil hilft, die noch immer bestehenden Spannungen und Feindseligkeiten zwischen den beiden Staaten zu dämpfen?
Wir wollten eigentlich gar nicht gegen Kroatien klagen. Es war eine Antwort auf deren Klage in Den Haag. Wir sollten das Urteil jetzt als Chance für die ganze Region begreifen. Wir sollten uns um ein besseres Verständnis unserer Völker bemühen und nicht neue Gräben aufreißen.
Die Richter haben beide Staaten aufgerufen, den Opfern von Kriegsverbrechen eine angemessene Entschädigung zukommen zu lassen. Werden Sie diesem Vorschlag folgen?
Wir müssen alles uns Mögliche tun, um das Schicksal von Vermissten zu klären und Geschädigten Genugtuung widerfahren zu lassen.
In Deutschland hat es nach der Nazizeit eine breite historische Aufarbeitung gegeben, in Südafrika sind nach dem Ende des Apartheidregimes „Wahrheitskommissionen“ gegründet worden. Sind das mögliche Vorbilder für Serbien?
Für alle in der Region, nicht nur für die Serben, ist es wichtig, Kriegsverbrechen zu untersuchen, sie gerichtlich zu verfolgen und die Verbrecher zu bestrafen. Wir müssen gemeinsam über die Ursachen der damaligen Auseinandersetzungen sprechen und versuchen, die Gegensätze zu überwinden.
Vor zehn Jahren waren Sie selbst noch ein großer Unterstützer des Generals Ratko Mladic, der heute als möglicher Kriegsverbrecher in Den Haag angeklagt ist. Damals versprachen sie, alles zu tun, um Mladic zu schützen. Was hat bei Ihnen den Gesinnungswandel verursacht?
Es ist normal, dass sich Menschen ändern. Und es gehört dazu, dies auch zuzugeben. Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht, ich mache heute noch welche – wenn auch nicht so schwere wie bei diesem Thema. Die Menschen in Serbien spüren, dass es mir ernst ist mit diesem Meinungswandel.
Am Sonntag werden Sie in Brüssel sein, um eine neue Runde von Gesprächen zwischen Serbien und dem Kosovo zu beginnen. Wie lange wird es noch dauern bis zu einem endgültigen Friedensschluss zwischen Belgrad und Pristina?
Die Dauer ist nicht wichtig. Entscheidend ist, dass wir das Leben der Menschen im Kosovo verbessern. Der Kosovo-Konflikt ist heute nicht mehr das größte Problem auf dem Balkan. Wir haben keine unüberwindbaren Sicherheitsprobleme mehr in der Region. Es gibt keine Verrückten mehr, die einen neuen Krieg wollen. Wir versuchen unsere Konflikte friedlich und im Gespräch zu lösen. Es gibt also Fortschritt.
Wie Serbien ist auch Russland bis jetzt nicht bereit, das Kosovo als unabhängigen Staat anzuerkennen . . . 
Da sind sie nicht allein. Auch Spanien, Griechenland, die Slowakei verweigern die Anerkennung.
Das ist richtig. Aber spielt Russland für Sie eine besondere Rolle in diesem Konflikt? Ist es für Sie womöglich der wichtigste Partner in Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik?
Russland gehört zu den zehn wichtigsten Investoren in meinem Land. Wir haben viele traditionelle Verbindungen zu Russland. Aber unsere strategische Ausrichtung ist klar: wir wollen ein Teil der Europäischen Union werden. Da gibt es keine „hidden agenda“, keinen versteckten Plan in Belgrad. Das habe ich auch Präsident Putin sehr deutlich gesagt, als er vor einigen Monaten in Serbien war.
Die EU-Staaten haben die Besetzung der Krim und die russische Unterstützung für die Rebellen in der Ostukraine gemeinschaftlich verurteilt. Haben Sie mehr Verständnis für die Position Moskaus?
Wir respektieren die territoriale Integrität der Ukraine – inklusive der Krim. Das habe ich frühzeitig bei Ausbruch des Konflikts erklärt und dafür habe ich einiges von meinen russischen Kollegen zu hören bekommen. Sie haben nicht gerade gejubelt.
Aber den Sanktionen, die von der Europäischen Union und den USA gegen Russland verhängt wurden, haben Sie sich nicht angeschlossen.
Wir sind ein kleines Land, und wir sind nicht Mitglied der EU. Niemand hat uns gefragt, an den Sanktionen teilzunehmen. Der Konflikt in der Ukraine scheint weit weg zu sein, aber er trifft auch uns. Die Schwäche des Rubel macht es schwerer, nach Russland zu exportieren. Ich muss mein Land schützen – auch ökonomisch. Wir sind nicht in einer Rolle wie Polen, deren Landwirtschaft für Ausfälle aufgrund der Sanktionspolitik einen finanziellen Ausgleich bekommt. Ich habe auch das Gefühl, dass dies alles in Berlin verstanden wird.
Gleichwohl scheint Serbien von einem Beitritt zur EU noch sehr weit entfernt zu sein.
Es gibt für uns keinen einfachen und schnellen Weg in die EU. Aber wir arbeiten hart daran, unser Land zu verändern. Dazu gehören auch sehr unangenehme, schmerzhafte Dinge. Aber wir sehen gute Resultate. Nach Auffassung der Weltbank wird Serbien, wenn es den Reformkurs fortsetzt, in den Jahren 2016/2017 das erfolgreichste Land in der Region sein. Dann hoffen wir ein Wachstum von mehr als zwei Prozent zu haben und eine Staatsverschuldung, die unter drei Prozent liegt. Das ist doch ganz gut.