Ein Lederball zählt zu den wenigen Sachen, die Karl Orban 1946 aus Ungarn mitbrachte. In jeder freien Minute spielen die jungen Vertriebenen in Stetten Fußball und stecken mit ihrer Begeisterung die „Einheimischen“ an.

Sport - Der erste Bolzplatz ist aus Schlacke und färbt Schuhe und Socken rabenschwarz ein. Der erste Trainingsplatz liegt auf dem Berg und ist nur über einen anstrengenden Fußmarsch zu erreichen. Die Netze für die Tore müssen für jedes Spiel durch die Weinberge getragen werden, Umkleidemöglichkeiten gibt es am Waldrand keine. Wasser zum Reinigen muss von einer nahen Quelle geholt werden. Und trotzdem gehören die ersten Kickereien, die ersten Freundschafts- und Punktspiele zu den schöneren Erinnerungen, die die jungen Flüchtlinge an ihre erste Zeit in der Fremde haben.

 

Unter den wenigen geretteten Sachen ist ein Lederball

„Wir haben ja sonst nichts machen können“, sagt Manfred Kellner, der 1946 als 15-Jähriger von Südmähren nach Stetten kommt. Er, seine sechs Geschwister und die Eltern werden in der Glockenkelter einquartiert, in zwei Zimmern. Die Räume sind voll, die Mägen oft leer: „Ich weiß noch, wie ich mit meinem Vater nach Bayern gefahren bin, um nach Kartoffeln zu betteln. Mit vier Rucksäcken sind wir zurückgekommen“, erzählt der mittlerweile 83-Jährige. Der einzige Lichtblick: das Fußballspielen mit anderen Flüchtlingen. Zum Beispiel mit den Brüdern Orban, die aus der Nähe von Budapest stammen. Unter den wenigen Habseligkeiten, die die Ungarndeutschen mitnahmen, befindet sich auch ein Lederball. „Schon damals hat es nur Fußball gegeben“, sagt Karl Orban. In seinem Wohnzimmer hat der 90-Jährige noch heute ein Mannschaftsfoto aus der Jugend hängen.

In Stetten angekommen, wird weiter gekickt: „Wir haben gewartet, bis die Handballer weg waren, dann sind wir auf den kleinen Sportplatz neben dem Bad“, erzählt Karl Orban. Immer wieder finden dort regelrechte Länderspiele zwischen Tschechen und Ungarndeutschen statt. Manfred Kellner erinnert sich, dass vor allem die Ungarn sehr an ihrer alten Heimat hingen: „Sie haben auch oft nur ungarisch gesprochen – ich weiß noch, dass später der württembergische Fußballverband Fremdsprachen auf dem Platz verboten hat, weil man nie wusste, was sie sagen.“

Legendär ist das Mitfiebern beim Endspiel der Weltmeisterschaft 1954. „Zuerst waren sich die Ungarndeutschen sehr sicher, dass sie Weltmeister werden. Aber ich habe in der Halbzeitpause gesagt: Wartet ab, das Spiel ist noch nicht aus“, sagt Kellner. Der deutsche Sieg wird im Kiosk neben dem Sportplätzle, im „Schdändle“ angeschaut. Der Schankraum war nicht größer als ein Wohnzimmer und eine zweite Heimat, vor allem für die Flüchtlingsfußballer.

Einheimische und Vertriebene vereint auf dem Sportplatz

Es versammeln sich allerdings nicht nur Vertriebene auf dem Spielfeld – „etwa die Hälfte waren Einheimische“, erzählt Orban. Auf der Jagd nach dem runden Leder scheint es egal zu sein, wo wer herkommt, anders als im Alltag. „Wenn irgendetwas weggekommen ist, hieß es oft: Das waren die Flüchtlinge“, erinnert sich Manfred Kellner, der sich gut vorstellen kann, dass deswegen der Fußball erst einmal von vielen argwöhnisch beäugt wurde: „Da haben die Flüchtlinge halt etwas Neues dahergebracht.“ Beim TV Stetten zumindest geben bis dahin vor allem die Turner den Ton an.

Treibende Kräfte bei der Gründung einer eigenen Fußballabteilung sind dann aber Einheimische wie der Elektromeister Wilhelm Häfner oder der Schneidermeister Emil Wössner. Die jungen Männer bekommen erst einmal kräftigen Gegenwind. In einer Festschrift des TV Stetten wird berichtet, dass sich zum Beispiel Karl Haidle vehement dagegen ausspricht – es sei doch kein Sport, einfach dem Ball hinterherzurennen, lieber sollte die Jugend an Geräten turnen. Mit einem Trick gelingt die Abteilungsgründung. Eigentlich müssen die Mitglieder, die die Abteilung gründen möchten, bereits seit mindestens einem Jahr dem Verein angehören. Wilhelm Häfner, später erster Abteilungsleiter, bezahlt kurzerhand den Beitrag für die Fußballer rückwirkend für ein Jahr. Am 10. Juli 1948 wird die Abteilung gegründet, ein Jahr später kann der vor allem in Eigenarbeit gebaute Sportplatz im Dorf eingeweiht werden.

Der Fußball tritt hinter Familie und Hausbau zurück

Karl Orban und Manfred Kellner bleiben beide nicht lange beim TV Stetten – sie werden zum erfolgreicheren VfL Waiblingen gelockt. „Zu mir hat der Waiblinger Chef gesagt: Wenn du zu uns kommst, verschaffe ich dir Arbeit“, erzählt Karl Orban. Er landet bei Bosch in Feuerbach und wechselt dann auch zur SpVgg Feuerbach, die in der ersten Amateurliga spielt. Dort bekommt er sogar zehn bis 15 Mark für jedes Spiel. Als er mit seiner Frau nach Stetten zieht, läuft er jedoch wieder für den TV auf. Manfred Kellner legt auch noch einen Zwischenstopp beim TSV Strümpfelbach ein. Besonders brisant: gleich im ersten Spiel für Strümpfelbach geht es im Lokalderby gegen Stetten: „Und dann habe ich auch noch zwei Tore geschossen“, erzählt Kellner, der sich seine Ausrüstung vom Mund abspart: „Zum Glück hatte mein Vater noch ein Stück Leder, daraus hat der Schuhmacher meine Stiefel gemacht.“

Mitte der 50er Jahren bleibt beiden neben der Arbeit und dem Hausbau wenig Zeit für das Fußballspielen. Aber aus den Augen verlieren sie ihre Leidenschaft trotzdem nicht: „Ich bin den Fußbällern treu geblieben und habe lange bei den Altherren gespielt“, sagt Karl Orban.