Eines vorweg: die schönsten Kinderbücher sind doch immer die, die sich die Erwachsenen heimlich aus dem Regal holen, um selbst darin zu lesen. Und am spannendsten wird es, wenn sie sie besorgt wieder zur Seite legen – wegen schlimmer Sachen, denn von solchen wimmelt es im Märchen. Das ist wahr. Nur leben diese versponnenen Geschichten eben gerade davon, zwischen sich und der Wirklichkeit eine Grenze zu ziehen, so unüberwindlich wie die süße Breimauer, die das Schlaraffenland von unseren alltäglichen Antrieben und Lüsten trennt.

 

Anders als das geeinte Europa, duldet die Fantasie Zonen und Reiche eigener Gesetze und Gerichtsbarkeit. Was wir sonst für äußerst anstößig halten würden, die Verunglimpfung von Frauen als Hexen und böse Stiefmütter, die Dämonisierung von kleinwüchsigen Männern, die Kulinarik des Kannibalismus oder reaktionär-royalistische Glücksreflexe – im Bewusstsein der Unüberwindlichkeit dieses Schutzwalls des Als-ob blicken wir neugierig über seine Ränder.

Helmut Kohl statt Jacob und Wilhelm Grimm

Wer damit nicht umgehen kann, bekam in seiner Kindheit vielleicht zu wenig Märchen vorgelesen und hat nicht gelernt, Gedankenspiele von der Wirklichkeit zu trennen. In Zeiten, in denen Ego Shooter die Kinderzimmer in Schach halten, könnte dies in der Tat gefährlich werden. Das Kinderzimmer unserer christdemokratischen Familienministerin Kristina Schröder wurde von Helmut Kohl bewacht, erklärte diese einmal in einem Interview. Die Grimms hatten darin nichts zu sagen, präzisiert sie nun in einem anderen Gespräch: ihres sexistischen Frauenbildes wegen.

Wir wollen gar nichts schönreden. Im Märchen tummeln sich unheimliche Wiedergänger all dessen, was in der waldigen deutschen Seele so herumspukt: giftige antisemitische Ausfälle, aber auch Triumphe der Geknechteten und Ausgestoßenen. Der erzählende Mund der Frauen und der eifrig protokollierende Griffel der Männer – irgendwo zwischen diesen beiden Polen ist das Frauenbild der Märchen anzusiedeln. Der Bogen spannt sich über das tumbe Blondchen gleichermaßen schützend wie über die tüchtige alleinerziehende Ziegenmama, die dem liederlich gefräßigen Versagerwolf am Kittel flickt, dass es ihn aus seinem selbstzufriedenen Gleichgewicht in die Tiefe reißt.

Wer damit nicht umgehen kann, bekam in seiner Kindheit vielleicht zu wenig Märchen vorgelesen und hat nicht gelernt, Gedankenspiele von der Wirklichkeit zu trennen. In Zeiten, in denen Ego Shooter die Kinderzimmer in Schach halten, könnte dies in der Tat gefährlich werden. Das Kinderzimmer unserer christdemokratischen Familienministerin Kristina Schröder wurde von Helmut Kohl bewacht, erklärte diese einmal in einem Interview. Die Grimms hatten darin nichts zu sagen, präzisiert sie nun in einem anderen Gespräch: ihres sexistischen Frauenbildes wegen.

Wir wollen gar nichts schönreden. Im Märchen tummeln sich unheimliche Wiedergänger all dessen, was in der waldigen deutschen Seele so herumspukt: giftige antisemitische Ausfälle, aber auch Triumphe der Geknechteten und Ausgestoßenen. Der erzählende Mund der Frauen und der eifrig protokollierende Griffel der Männer – irgendwo zwischen diesen beiden Polen ist das Frauenbild der Märchen anzusiedeln. Der Bogen spannt sich über das tumbe Blondchen gleichermaßen schützend wie über die tüchtige alleinerziehende Ziegenmama, die dem liederlich gefräßigen Versagerwolf am Kittel flickt, dass es ihn aus seinem selbstzufriedenen Gleichgewicht in die Tiefe reißt.

Feilen, zensieren, beschönigen und beschneiden

Das Märchen stammt aus niederen gesellschaftlichen Zonen, die der bildungstragenden Elite lange nicht geheuer waren. Und bis diese sie ins Herz schloss, mussten die Grimms lange feilen, zensieren, beschönigen und beschneiden. Lustig anzuschauen, dass dieses eigentlich restaurative Werk immer wieder im Zeichen von Fortschrittsphrasen aufgegriffen wird. Die Fackel der Vernunft soll vielversprechend alle zwielichtigen Winkel ausleuchten.

Vorsicht, Märchen können die politisch-korrekte Entwicklung Ihres Kindes beeinträchtigen!

Aber muss man überall wirklich Geländer und Warnhinweise anbringen? Doch nur, wenn man nicht gelernt hat, auf sich selbst aufzupassen. In dem fantastischen Kindheitsraum der Märchen aber bleibt einem gar nichts anders übrig.

Wer mit ihnen umgehen kann, hat einen Sinn für das, was anders ist. „Die beste Lehre ist die, die nicht ganz verdaut wird, sondern deren Stoff lang aushält“, schreibt Jacob Grimm. In jedem Märchen bleibt ein aufsässiger Rest, etwas, das nicht aufgeht – sei es eine rätselhafte sprachliche Wendung, eine moralische Zumutung oder einfach nur der verrückte Nonsens einer Bratwurst, die mit einer Maus und einem Vogel das Lager teilt. Glaube niemand, der das seinen Kindern oder sich selbst nicht mehr zumuten will, er sei damit auf der sicheren Seite. Der böse, böse Ego-Shooter hat den armen Wolf im Handumdrehen erlegt. Dann Gute Nacht!

(Stefan Kister)

Kontra: Eindimensional und unzeitgemäß

Auf so etwas kann nur eine Stiefmutter kommen: „Wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist“, sagt das böse Weib, „sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los.“ „Die Kinder dauern mich“, sagt der Vater von Hänsel und Gretel. Aber lässt er nicht trotzdem zu, dass seine Kinder im Hexenhaus landen? In die Geschichte ist die Stiefmutter als Biest eingegangen. Der Papa hatte dagegen „keine frohe Stunde, seitdem er die Kinder im Walde gelassen hatte“.

So ist das Märchen eben: Es definiert Gut und Böse und verteilt seine Sympathien nicht immer gerecht. Stiefmütter kommen schlecht weg. Der Schwächling von Rabenvater aber, der sich gegen die zweite Ehefrau nicht zur Wehr setzt, ist bei den Brüdern Grimm ein armer, ein guter Mann.

Die Märchen der Grimms sind eindimensional wie die Romane einer Rosamunde Pilcher. Bloß geht es in ihnen brutaler zu als in jedem Tatort: „Da schleppten die sieben Geiserchen die Steine herbei und steckten sie dem Wolf in den Bauch, so viel sie hineinbringen konnten.“ Der eine rutscht in den Trog und säuft ab, andere werden ausgepeitscht, „dass sie in gewaltigen Sprüngen davonliefen“. Das mag Hoffnungen nähren, dass die Bösen ihre gerechte Strafe bekommen. Aber schaut so eine zeitgemäße Konzeption von Welt aus?

Das Gute lässt sich in barer Münze messen

Märchen basieren auf starren, antiquierten Denkmodellen und Rollenklischees. Zwischentöne sind ihnen fremd. Gut kämpft gegen Böse. Wobei gut synonym für Schönheit, Status und Reichtum steht. Wenn am Ende das Gute siegt, lässt sich das stets in barer Münze messen. Hänsel und Gretel bringen Perlen und Edelsteine mit. Tische werden reich gedeckt, oder es regnet Goldstücke. „Die gottlose Hexe muss elendiglich verbrennen.“ Und die böse Stiefmutter, Wunder über Wunder, ist einfach gestorben.

Die Prinzessin holt den Frosch nicht etwa ins Haus, weil auch „dicke, hässliche Kröten“ liebenswert sein können, sondern weil am Ende ein Prinz im Zimmer steht. Hässlichkeit hat im Märchen nur Berechtigung, damit sie wundersam in Schönheit verwandelt wird. Armut ist höchstens übergangsweise geduldet, weil sie sich am Ende in Reichtum verwandelt. Unglückliche Mädchen werden von Helden gerettet, der Rest fügt sich durch Wunder. Differenzierte und realistische Problembewältigung schaut anders aus.

Kinder haben ein sehr feines Gerechtigkeitsempfinden. Sie brauchen keine Holzhammer-Märchen, um Gut von Böse unterscheiden zu lernen. Die Frage sei deshalb erlaubt, warum ausgerechnet diese plumpen, erzreaktionären Märchen bis heute als Standardlektüre gelten. Übrigens fürchten sich Kinder oft dabei – und man hat den Eindruck, dass sie hier nicht Moral lernen sollen, sondern sich abhärten. Das sollten die kleinen Spartaner übrigens auch – mit Hilfe einer Methode, die die Brüder Grimm nicht besser hätten erfinden können: So wurden die Buben und Mädchen ins eisige Wasser gestoßen – und nur die Stärksten und Edelsten überlebten. Und wenn sie nicht gestorben sind, so stoßen sie heute ihre eigenen Kinder ins Eiswasser.

(Adrienne Braun)