In dem kurzen Märchen „Die alte Bettelfrau“ etwa fangen die Lumpen einer Bettlerin Feuer, als sie sich in einer Hütte wärmen will und sich dabei zu nahe an einen funkensprühenden Ofen wagt. Die Frau verbrennt, während ein dabeistehender Jüngling tatenlos zuschaut. Anklagend lautet der letzte Satz: „Und wenn er kein Wasser gehabt hätte, dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den Augen herausweinen sollen, das hätte so zwei hübsche Bächlein gegeben zu löschen.“ Untypisch ist in diesem Märchentext der hoffnungslose Ausgang, die fehlende Auflösung im „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“.

 

Elend jedoch herrscht in der Grimm’schen Märchenwelt allüberall bei den einfachen Leuten, während in den goldglitzernden Palästen des Adels die Prinzen und Prinzessinnen rauschende Bälle feiern. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weit auseinander.

Doch organisieren sich die Ausgebeuteten in keiner Gewerkschaft – vielleicht mit Ausnahme der Bremer Stadtmusikanten –, formulieren keine Pamphlete, fordern keine Steuererhöhungen für die Reichen und Superreichen, schreiben keine Armutsberichte und zetteln keine Revolution an, um den bösen König zu stürzen. Erlösung erreichen die Märchenfiguren nicht durch politische Aktionen, sondern durch eine Fügung des Schicksals. Eschatologisch richtet sich ihre Hoffnung auf eine politikfreie Gesellschaft, in der alle glücklich und zufrieden leben.

Andersens Märchen sind anders

Nicht alle Märchen sind so. Hans-Christian Andersens „kleines Mädchen mit den Schwefelhölzern“ findet keine Erlösung. Es erfriert an einem kalten Silvesterabend im Schnee. Der Stuttgarter Komponist Helmut Lachenmann hat den Stoff in seiner gleichnamigen Oper eminent politisch interpretiert. Sein zündelndes Mädchen zitiert ein Gedicht der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin: „Entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere.“ Kein Wunder, dass Andersens Kunstmärchen als wenig märchenhaft empfunden werden.

Das verwundert umso mehr, als die Brüder Grimm selbst zu den Göttinger Sieben gehörten, jenen Professoren, die wegen ihrer liberalen Gesinnung 1837 ihren Lehrstuhl verloren, weil sie öffentlich gegen die Aufhebung der Verfassung im Königreich Hannover protestiert hatten. Ein Jahr nach seiner Entlassung rechtfertigte Jacob Grimm seinen Protest gegen König Ernst August in einem fast märchenhaften Ton. „Auch die Poesie, der Geschichte Widerschein, unterlässt es nicht, Handlungen der Fürsten nach der Gerechtigkeit zu wägen“, erklärt er in einer Rechtfertigungsschrift, den Archetypus des „gerechten Herrschers“ aufgreifend. Ihre Haus- und Volksmärchen hingegen halten die Grimms frei von aufrührerischer Politik, jedenfalls in jener Fassung, die Wilhelm Grimm ab der dritten Auflage für den kommerziellen Erfolg zurechtstutzte.

Dabei ist die Welt der Grimm’schen Märchen ja nicht frei von sozialen Spannungen. Es gibt bitterarme Bauern, vereinsamte Witwen und zerlumpte Landstreicher, Kinderarbeit und Ausbeutung. Die Welt ist zumindest zu Beginn der Erzählungen ganz und gar nicht märchenhaft eingerichtet. Und manche Geschichten, vor allem die weniger bekannten, geben Einblick in eine Welt der Armut und der Stumpfheit.

Die Ausgebeuteten begehren nicht auf

In dem kurzen Märchen „Die alte Bettelfrau“ etwa fangen die Lumpen einer Bettlerin Feuer, als sie sich in einer Hütte wärmen will und sich dabei zu nahe an einen funkensprühenden Ofen wagt. Die Frau verbrennt, während ein dabeistehender Jüngling tatenlos zuschaut. Anklagend lautet der letzte Satz: „Und wenn er kein Wasser gehabt hätte, dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den Augen herausweinen sollen, das hätte so zwei hübsche Bächlein gegeben zu löschen.“ Untypisch ist in diesem Märchentext der hoffnungslose Ausgang, die fehlende Auflösung im „Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“.

Elend jedoch herrscht in der Grimm’schen Märchenwelt allüberall bei den einfachen Leuten, während in den goldglitzernden Palästen des Adels die Prinzen und Prinzessinnen rauschende Bälle feiern. Die Schere zwischen Arm und Reich geht weit auseinander.

Doch organisieren sich die Ausgebeuteten in keiner Gewerkschaft – vielleicht mit Ausnahme der Bremer Stadtmusikanten –, formulieren keine Pamphlete, fordern keine Steuererhöhungen für die Reichen und Superreichen, schreiben keine Armutsberichte und zetteln keine Revolution an, um den bösen König zu stürzen. Erlösung erreichen die Märchenfiguren nicht durch politische Aktionen, sondern durch eine Fügung des Schicksals. Eschatologisch richtet sich ihre Hoffnung auf eine politikfreie Gesellschaft, in der alle glücklich und zufrieden leben.

Andersens Märchen sind anders

Nicht alle Märchen sind so. Hans-Christian Andersens „kleines Mädchen mit den Schwefelhölzern“ findet keine Erlösung. Es erfriert an einem kalten Silvesterabend im Schnee. Der Stuttgarter Komponist Helmut Lachenmann hat den Stoff in seiner gleichnamigen Oper eminent politisch interpretiert. Sein zündelndes Mädchen zitiert ein Gedicht der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin: „Entweder du vernichtest dich selbst oder du vernichtest andere.“ Kein Wunder, dass Andersens Kunstmärchen als wenig märchenhaft empfunden werden.

Märchen können nicht in einem demokratischen Staat spielen. In der pluralistischen Gesellschaft sind die Motive und Interessen niemals eindeutig. Es gibt keine guten und bösen Herrscher, sondern alle Herrscher und alle Beherrschten haben sowohl gute als auch schlechte Seiten. Fortschritte sind das Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Die Dichotomie, die es dem Märchen ermöglicht, dass seine Protagonisten hinfort glücklich und zufrieden leben, sobald erst einmal das Gute gesiegt hat, gibt es in der Wirklichkeit nicht. Das Märchen von der guten und weisen Bundeskanzlerin muss zwangsläufig ein Märchen bleiben.