Was ist denn in Indien so anders?
Kale Zum Beispiel das Arbeitsleben. Man fängt viel später an, arbeitet dafür abends lange und immer am Samstag. In Deutschland kann ich wegen meiner Tochter Teilzeit arbeiten. Meine große Sorge ist, dass ich mich, sollten wir einmal zurückkehren, nicht mehr zurechtfinde.
Di Croce Ich habe es 1984 probiert und bin nach Italien zurück, in mein Heimatdorf in den Abruzzen. Ich habe meine Familie mitgenommen – auch meine deutsche Frau. Aber ich habe schnell gemerkt: Hier kann ich nicht mehr leben. Ich hatte mich verändert. Nach zwei Jahren sind wir wieder nach Deutschland zurückgekehrt.
Wie hatten Sie sich verändert?
Di Croce Ich hatte viel gesehen von der Welt, hatte auch einige Jahre in Kanada gelebt. In Deutschland hatte ich einen interessanten Beruf als Gewerkschaftssekretär der IG Metall. Doch wenn ich in meinem Dorf davon erzählt habe, hat das die Leute nicht interessiert, weil sie es nicht kannten. Stattdessen ging es immer nur um die Frage: Wann regnet es endlich, damit das Gemüse wächst. Das ging mir schnell auf die Nerven.
Ihr Heimatdorf war Ihnen zu eng geworden?
Di Croce Es war nicht mehr meine Welt.
Was vermissen sie in Deutschland?
Di Croce Die Lockerheit der Italiener. Hier herrscht eine Strenge, alles ist glatt gebügelt. Die Menschen sind oft so verbissen. Im Arbeitsleben ist das okay, aber man muss auch leben und genießen können.
Kale Nein, genau das mag ich an Deutschland. Diese Disziplin – und dass alles funktioniert. Was mir fehlt ist mehr Toleranz. In Indien haben wir 14 offizielle Sprachen. Ich spreche Marathi, unsere Nachbarn Gujrati. Trotzdem können wir uns verständigen. Das ist ganz selbstverständlich. In Sindelfingen aber hatte ich am Anfang Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden – weil ich mich auf Englisch beworben hatte.
Wie fühlen Sie sich heute – eher deutsch oder indisch?
Kale Jetzt nach zehn Jahren kann ich sagen: Ich liebe Maultaschen und Samosas (indische Teigtaschen, Anmerkung der Redaktion). Anfangs aber kamen wir nur für sechs Monate nach Sindelfingen. Mein Mann hatte einen Vertrag für ein halbes Jahr. Wir waren Touristen und haben uns viel angeschaut in Europa. Dann wurde der Vertrag mehrmals um ein Jahr verlängert. Auch da fühlten wir uns noch als Gäste und wollten nach Indien spätestens dann zurück, wenn unsere Tochter mit sechs Jahren zur Schule muss. Dann schulten wir sie vor drei Jahren doch hier ein. Sie kam gut mit, und erst da sagten wir uns: Jetzt müssen wir uns hier integrieren.
Was tun Sie dafür ?
Kale Ich setze mich intensiv mich mit der indischen und deutschen Kultur auseinander. Ich gehöre zu einer Gruppe von Indern, die kulturelle Veranstaltungen in der Region organisieren, zum Beispiel Konzerte mit indischer Musik. Außerdem mache ich bei deutschen Projekten mit. So habe ich beim Stadtmusical „Sirenen der Heimat“ mitgesungen.
Herr Di Croce, sind Sie Italiener oder Deutsche?
Di Croce Mein Pass ist italienisch. Ich sehe mich aber vor allem als Weltbürger. Ich kann überall leben und habe auch meine Kinder so erzogen. Mein Schwiegersohn ist Schwabe, meine Schwiegertochter Russin. Meine Kinder haben drei Staatsangehörigkeiten: die deutsche, italienische und kanadische. Sie fühlen sich aber als Deutsche. Und das ist richtig so. Man muss sich für etwas entscheiden. Halb, halb – das funktioniert nicht.
Und Ihre Tochter, Frau Kale?
Kale Sie ist ziemlich deutsch, auch wenn sie fließend Marathi spricht. Aber vor allem, wenn wir in Indien sind oder die Großeltern aus Indien zu Besuch sind, merke ich, dass sie ganz anders ist: In Deutschland werden die Kinder selbstbewusst und selbstständig erzogen. Mir gefällt das. Nicht alle Inder kommen damit klar.
Können Sie sich vorstellen, nach Indien zurückzugehen?
Kale Wie spielen immer wieder mal mit dem Gedanken. Aber realistisch ist das nicht, schon wegen unserer Tochter. In Indien ist das Schulsystem komplett anders – und auch die Sprache. Außerdem haben wir seit Kurzem alle einen deutschen Pass. Wir kennen jetzt hier viele Leute – auch durch das Stadtmusical, bei dem ich und meine Tochter mitgemacht haben. Wir fühlen uns nun in Sindelfingen heimisch.