Es ist ein gutes Geschäft, großen Tieren eine Nazivergangenheit anzudichten – meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Nun also auch Helmut Schmidt. Von Nazi-Ideologie soll er im Dritten Reich „kontaminiert“ gewesen sein, die Wehrmachtsakte und Zeugnisse aus jener Zeit würden dem jungen Oberleutnant eine „einwandfreie“ und „tadellose“ nationalsozialistische Haltung bezeugen, außerdem sei er ohne Not der Hitlerjugend beigetreten. Dies und mehr präsentiert die Publizistin Sabine Pamperrien in einem Buch über Helmut Schmidt und den „Scheißkrieg“, das in dieser Woche erschienen ist. Und schon haben wir wieder einen, der nicht standfest genug war, einen Versager vor dem Geist der Demokratie, demontiert von einer jüngeren Frau aus der Generation von Leuten, die im Wohlstandsfett und fast schrankenloser Freiheit leben. Sie haben keine Vorstellung davon, was in einer Diktatur zu erdulden war, sie sind ahnungslos.

 

Aber wie man sich aufplustert, wie man sich ins Rampenlicht stellt, wie man gute Geschäfte macht, das wissen sie schon. Das Rezept heißt: mach einen Großen klein, finde irgendeine Unebenheit in seinem Wesen, eine Jugendsünde, mach ihn mies, wende dich damit in unserer sensationsgierigen Medienwelt an die Öffentlichkeit, und, schwupps, wächst du über deine bis dahin unbedeutende Person hinaus, bist selbst ein Schwergewicht. Der Angegriffene aber schrumpft, sieht sich geschmäht, verachtet. Du hingegen wirst zum Interview gebeten, sitzt in Talk-Shows, deine Bücher landen auf den Bestsellerlisten.

Es herrscht die Mafia des Mittelmaßes

Nazi-Vorwürfe sind besonders geeignet, einen bis dahin Geehrten zu demontieren. In dieser Weise hat sich auch ein gewisser Professor Rainer Eisfeld, den bis dahin kaum jemand kannte, einen öffentlichen Namen gemacht, als er den Tübinger Professor Theodor Eschenburg, den originellsten Demokratielehrer der Nachkriegszeit, mit der Anklage, er sei an Arisierungsverfahren beteiligt gewesen, vom Sockel holte. Zwar widersprach ihm dabei die ganze Elite der deutschen Politikwissenschaft. Auch Hans Küng, der Welt-Ethos-Gründer, sagte für den Kollegen gut. Es half nichts. Der Preis, der Eschenburgs Namen trug, wurde abgeschafft. Die Mafia des Mittelmaßes der heute theoretisch-ideologisch ausgerichteten Politologen gab den Ausschlag. Eschenburg ist nicht nur leiblich tot, auch sein Ruf als wirkungsmächtiger Praeceptor Germaniae ist dahin.

Jetzt also gilt es ein neues Opfer in den Orkus zu befördern, Helmut Schmidt, den ewigen Altkanzler und rücksichtslosen Raucher, bald 96 Jahre alt und im Gegensatz zu Eschenburg noch am Leben. Er ist also in der Lage, sich zu wehren. Ob das gelingt, ist eine ganz andere Frage, denn der Zeitgeist wohnt bei den Ahnungslosen, und der Zeitgeist spielt sich als nachträglicher Nazibewältiger auf, als Inquisitor aus der dritten Folgegeneration, der die Großväter – ob schuldig oder nicht – ins Fegefeuer schickt.

Ein Glück, dass ich keine Politikerin geworden bin

Da kommt keiner mehr ganz raus. Schon sprechen Kommentatoren vom neuen Blick auf den alten Mann. Es bleibt ja immer etwas hängen. Und natürlich hätten Madame Robbespierre und die ihr nun nachfolgenden Moralritter allesamt Widerstand geleistet. Sie scheinen zu glauben, das wäre bei den Nazis in etwa so kuschelig verlaufen wie eine Montagsdemo vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. Aber leider führte unter Adolf, dem Allerschrecklichsten, schon ein einziges falsches Wort ins KZ. Ein systemkritischer Witz, das Hören von „Feindsendern“ oder die öffentlich geäußerte Vermutung, der Krieg sei verloren, konnte den Tod bedeuten. Hätten Helmut Schmidts Vorgesetzte nicht die übliche Formel der Beurteilung ins Zeugnis geschrieben, sondern vermerkt, der junge Offizier glaube nicht an den Endsieg, ihm wäre Schlimmes widerfahren.

Solche Verhältnisse kann sich Frau Pamperrien offenkundig nicht ausmalen. Wie es ja überhaupt schwierig ist, sich in eine andere Zeit zu versetzen. Aber wenn einem schon die Vorstellungskraft fehlt, so sollte man sich zumindest informieren, bevor man andere Menschen selbstgefällig und pharisäerhaft mit Dreck bewirft. So setzt sich die Autorin auch noch aufs ganz hohe Ross und hält dem Ehepaar Schmidt vor, es habe sich kirchlich trauen lassen, also auf diese „weitgehend gleichgeschaltete Institution“ gebaut. Zwar weiß die angebliche Historikerin, dass es in der evangelischen Kirche neben den „Deutschen Christen“ auch „Die Bekennende Kirche“ gab, erklärt sie aber zur Nebensache. Dabei haben deren Pastoren unter Lebensgefahr für sich und ihre Familien Juden versteckt. Wer, wie der Pfarrer Julius von Jan, auf der Kanzler gegen die „Reichspogromnacht“ wetterte, wurde mit Haft und Folter bestraft. Andere schickte man an die Front, damit sie dort umkommen. Martin Niemöller und Dietrich Bonhoeffer, beide führende Vertreter der Bekennenden Kirche, saßen im KZ. Bonhoeffer wurde noch im April 1945 als einer der letzten Widerstandskämpfer hingerichtet. Für Frau Pamperrien zählen diese Opfer nicht.

Ein Glück, dass ich keine Politikerin geworden bin. Zwar würden die Pamperrienesen mir, einem „Mischling ersten Grades“ mit einer jüdischen Mutter und zwei Nazigemordeten in der engsten Familie, sicher einiges zugutehalten. Aber könnte mich das vor Anwürfen bewahren? Ich wäre gern ein BDM-Mädel geworden, war aber noch nicht alt und nicht arisch genug. In der ersten Schulklasse habe ich jeden Morgen wie alle anderen den Lehrer mit dem Hitlergruß empfangen und anschließend das Horst-Wessel-Lied geschmettert. Ich habe keinen Widerstand geleistet.