Noch halten wir die Arme auf. Aber auch Deutschland wird bald irgendwelche Mauern bauen, meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Irgendjemand muss das Gerücht in die Welt gesetzt haben, Deutschland sei das Paradies auf Erden. Es sei unvorstellbar reich, verfüge über unermesslich viele Lebenschancen und nehme jeden liebend in den Arm, der es schafft, diesen Ort des Wohlergehens zu erreichen. Und wie es mit Gerüchten so geht, verbreiten sie sich schnell, erst recht im Zeitalter der internationalen digitalen Vernetzung, die nicht nur in den wohlhabenden Ländern, sondern auch in armen und ärmsten Hütten inzwischen alltäglich ist. In dieses gelobte deutsche Land will der Mensch also ziehen, wenn ihm sein bisheriges Leben entweder bedroht oder unerträglich erscheint. Und also macht er sich auf gen Norden. So entstand, was wir eine Flüchtlingswelle nennen.

 

Innerhalb eines Jahres hat sich die Zahl der Flüchtlinge und Asylbewerber mehr als verdoppelt. Am Jahresende werden es Vierhunderttausend sein, die bei uns Glück und Frieden suchen. Darauf war niemand vorbereitet. Die kommunalen Verwaltungen, die für die Unterbringung zu sorgen haben, sind häufig überfordert, Bürgermeister ringen die Hände, die Bevölkerung schwankt zwischen Hilfsbereitschaft und fremdenfeindlicher Aggression. Hier und da flackert Hass auf, brennen Heime und gerade entstehende Unterkünfte, treten Schlägertrupps und Rechtsradikale auf den Plan.

Was wir erleben, ist eine Völkerwanderung

Was aber wird erst sein, wenn sich die Zahl der Flüchtlinge noch einmal verdoppelt? Wenn diejenigen, die Asyl oder ein besseres Leben suchen, nicht nur in einzelnen Aufnahmezentren oder Stadtteilen wohnen, sondern allenthalben das Bild unseres gelobten Landes bestimmen? Denn in Wahrheit haben wir es nicht mit einem zufällig anno 2015 stattfindenden Ausbruch zu tun. Was wir erleben, ist eine Völkerwanderung.

Eine Völkerwanderung von Arm nach Reich, aus dem Bürgerkrieg in den Frieden, von der Willkürherrschaft zu rechtsstaatlicher Sicherheit, von religiöser Verfolgung in die Freiheit. Auf alle Fälle aber ist es eine Wanderung nach Europa, bevorzugt in den Norden. Die Italiener und Griechen reichen diese Menschen weiter, lassen sie durchziehen, vor allem nach Deutschland. Warum aber gerade jetzt dieser explosionsartige Aufbruch, der die Züge einer menschlichen Katastrophe anzunehmen beginnt?

Gefährliches Gebräu aus Lebensangst und Glücksstreben

Herrscht in Syrien noch schlimmerer Bürgerkrieg als vor einem Jahr? Sprengen sich im Irak mehr Selbstmordattentäter in die Luft? Sind die Terroristen von Boko Haram oder Al-Schabab erst jetzt aufgetaucht? Hat der sogenannte Islamische Staat nicht schon 2014 die Köpfe abgeschlagen? Haben sich in Afrika die Verhältnisse tatsächlich auf einen Schlag so verschlechtert? Und warum kann man dann lesen, dass der Schwarze Kontinent boomt – , welches Land auch immer damit gemeint sein soll? Es ist, als gelte es auf einen allerletzten Zug aufzuspringen, als stünde der Weltuntergang bevor, als drohe eine Sintflut. Die Mitte und der Norden Europas aber seien die Arche Noah, die es zu erklimmen gilt, bevor alles zu Ende geht.

Das hat etwas Geisterhaftes, aber natürlich ist auch etwas dran. Es gibt gewiss tausend Gründe aus Syrien, aus Libyen, aus dem Irak, aus Afghanistan oder Eritrea zu fliehen. Weniger einsichtig und schon gar kein Grund für Asyl, worauf der Gesetzgeber bereits reagiert hat, erscheint die Flucht aus den Ländern des Balkans. So vermischen sich berechtigte Lebensangst in Kriegsgebieten, unerträgliche Lebensumstände in Diktaturen und das verständliche Streben nach ein bisschen Glück zu einem gefährlichen Gebräu. Die Gerüchte vom deutschen Kanaan, die ja, wenn man auf die Welt schaut, nicht ganz aus der Luft gegriffen sind, befeuern dieses panische Klima. Tausende und Abertausende reißt es mit.

Dass so viele kommen würden, ahnte offenbar niemand. Vielmehr freuten wir uns an unserer Willkommenskultur, klopften uns selbstgefällig auf die Schulter, sprachen vom Mangel an Arbeitskräften. Und es ist ja wahr, dass mancher der Flüchtlinge hier gebraucht wird. Es ist auch ganz wunderbar, dass die Deutschen viel weltoffener, toleranter und hilfsbereiter sind als noch vor Jahren. Ohne diese neue Hilfsbereitschaft wäre manche Kommune schon am Ende ihrer Kräfte. Nichts also gegen die Willkommenskultur, aber alles gegen die Gesinnungswächter und ihre Sprechverbote, die hinter jedem mahnenden Wort eine rassistische oder fremdenfeindliche Einstellung vermuten und die Probleme schönreden.

Nun aber ist die Situation da, und sie birgt mehr Dynamit, als mögliche Milliarden vom Bund oder ein Einwanderungsgesetz entschärfen könnten. Zum einen spaltet sie die Gesellschaft in Willkommenskulturisten und Fremdenhassisten – beide gleichermaßen obsessiv, weshalb sie den radikalen Gruppen und Parteien von links und rechts Auftrieb verschaffen. Sozialer Sprengstoff lauert aber auch in der Masse der Geflüchteten selbst – überwiegend junge Männer verschiedenster Herkünfte, ohne Familien, jetzt zusammengepfercht, testosterongeladen, irgendwann frustriert, und was die Chancen zur Integration angeht, in keiner Weise zu vergleichen mit der homogenen, deutschsprachigen Gruppe der Nachkriegsvertriebenen. Längst hat das Problem auch in Europa Zwietracht gesät. Die Engländer haben dicht gemacht, die Ungarn ziehen Zäune hoch, die baltischen Staaten und Polen winken höflich ab.

Vor allem wir Deutschen halten die Arme noch geöffnet und werden doch ebenfalls bald irgendwelche Mauern aufbauen. Die paradiesischen Jahre sind jetzt schon vorbei.