Hurrikan auf den Philippinen, unsichere Lage in der Türkei, Haiattacke in Südafrika – überall auf der Welt gibt es Gefahren. Um Touristen zu warnen oder im Notfall rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, muss man wissen, wo was los ist. Die deutschen Reisekonzerne bekommen diese Informationen von einer Firma in Tübingen.

Leben: Susanne Hamann (sur)

Tübingen - Manchmal wundert sich Marcel Brandt, wenn er abends die Nachrichten schaut. „Nur ein Bruchteil dessen, was auf der Welt passiert, wird tatsächlich gesendet“, sagt der 39-Jährige. Brandt ist General Manager der A3M GmbH. Die Tübinger Firma entwickelt und betreibt Frühwarnsysteme für touristisches Krisenmanagement. Ein in Deutschland einmaliges Konzept, daher ist die Firma offizieller Partner des Deutschen Reiseverbandes.

 

Ein modernes Büro am Rand der Tübinger Innenstadt. Durch die bodentiefen Glasfronten sieht man auf Fachwerkhäuser, in der Ferne lugt das Tübinger Schloss hinter den Dächern hervor. Doch für die hübsche Aussicht haben die Mitarbeiter keinen Kopf. Sie müssen sechs große Flachbildschirme an der Wand plus zwei Computer vor sich auf dem Schreibtisch im Auge behalten. Die Schaltzentrale von A3M erinnert an den Arbeitsplatz eines Börsenmaklers. Oder an eine Miniausgabe des Nasa-Kontrollzentrums – allerdings würde man den Satz „Houston, wir haben ein Problem“ mindestens 30-mal am Tag hören. Wenn viel los ist auch mal doppelt so oft.

Hunderte von Meldungen täglich

A3M hat die ganze Welt im Blick: Ascheausbruch beim Vulkan Sabacay in Peru. Verletzte bei gewaltsamen Protesten in Boke im westafrikanischen Guinea. Zyklon über dem Inselstaat Vanuatu im Südpazifik - Meldungen wie diese finden die meisten Fernsehzuschauer vermutlich uninteressant. Aber wer gerade in der Gegend zu tun hat oder dort Urlaub machen möchte, muss davon wissen. Und hier kommen die Katastrophenbeobachter ins Spiel. Hunderte von Meldungen über Unglücke oder Gefahren treffen täglich in Tübingen ein. Sie werden gesichtet, überprüft, bewertet und schnell an die Kunden weitergegeben. Die Kundschaft, das sind die Krisenzentren der Reise-Anbieter sowie einige Wirtschaftsunternehmen. „Viele Firmen schicken ihre Mitarbeiter auf Geschäftsreise oder Montage irgendwohin und wollen sie in Sicherheit wissen“, sagt Marcel Brandt. Zu den Namen, die er offiziell nennen darf, gehören Tchibo (Kaffee), Kärcher (Hochdruckreiniger) oder Uvex (Sturzhelme). Auf Grundlage der von A3M gelieferten Informationen wird in den Firmenzentralen und bei den Touristikkonzernen entschieden, ob man Urlauber oder Geschäftsreisende nur vorsorglich warnt – oder gleich evakuiert.

Gearbeitet wird im Schichtdienst, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Einen Teil der Nacht deckt ein in Südkorea lebender Mitarbeiter ab. Zudem gibt es noch eine Außenstelle in Hamburg. Einer der großen Bildschirme in der Tübinger Zentrale zeigt die ständig aktualisierte Krisenkarte. Die Welt, übersät mit Warnrauten, wie man sie aus dem Chemieunterricht kennt. Manche sind rot – das bedeutet Alarmstufe. Manche sind hellgelb – leichte Einschränkung. Jede Raute stellt ein Ereignis dar. Mit diesem neutralen Begriff werden Katastrophen aller Art bezeichnet: Erdbeben, Schneesturm, Terroranschlag, Piratenüberfall, Streik, Krieg, nuklearer Zwischenfall. 6500 Warnungen wurden im Jahr 2016 herausgegeben. 1380 davon bezogen sich auf die Kategorie Terror. Im Jahr zuvor gab es nur 810 Terrorwarnungen. „Dafür ist im selben Zeitraum die Zahl der Naturkatastrophen zurückgegangen“, sagt Marcel Brandt. Von 1925 im Jahr 2015 auf 1790 im vergangenen Jahr.

Rasche Einschätzung der Lage

Die 20 Mitarbeiter haben fast alle Politologie studiert und sich dann auf weiteren Gebieten wie Geologie oder Meteorologie fortgebildet. Sie müssen rasch einschätzen können, wie wichtig ein Ereignis ist und welche möglichen Auswirkungen es haben könnten. „Die Ankündigung einer Schülerdemonstration in Venezuela hört sich zunächst harmlos an. Aus Erfahrung wissen wir aber: da knallt’s bestimmt“, erklärt Samen Kizgin (30), der als Redakteur bei A3M arbeitet. Andererseits seinen Explosionen auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oft eher harmlos zu bewerten: „Meist stecken spielende Kinder dahinter, die dummerweise alte Munition gefunden haben.“ Dass sie ständig mit Leid und Unglück konfrontiert sind blenden die Mitarbeiter aus. Sie machen den Job, um anderen zu helfen und sie haben dabei den sportlichen Ehrgeiz, schnell zu sein. Am besten schneller als die internationalen TV-Sender. „Wenn wir eine Info haben und BBC World News erst danach sendet, das ist schon cool“, sagt Samen Kizgin. Weniger cool seien nervige Fragen von Freunden, wie „Und: was gibt’s Neues?“

Die Firma A3M wurde nach dem Tsunami 2004 von zwei Informatikprofessoren gegründet. „Die Riesenwelle riss 230 000 Menschen in den Tod. Dabei wusste man, dass der Tsunami kommen würde. Die Informationen erreichten die Leute aber nicht. Das wollten die Firmengründer ändern“, sagt Marcel Brandt. Am Anfang stand ein Algorithmus für eine Software, die Reisenden Warnungen auf das Mobiltelefon schickt. Natürlich nur das, was für ihr Zielgebiet relevant ist. Möglichst schnell und verständlich, auf Deutsch und Englisch. Neben Tempo und Korrektheit ist Klartext oberstes Gebot. „Wir drücken uns viel deutlicher aus als etwa das Auswärtige Amt. Die sind oft sehr zurückhaltend, weil sie sich auf diplomatischen Parkett bewegen“, sagt Redakteur Christian Reck (30).

App für Privatleute

Zum Team gehören auch Entwickler, die die Software im Laufe der Jahre immer mehr verfeinert haben. Inzwischen gibt es Schnittstellen zu den Buchungssystemen. „So können Tui, Thomas Cook, Dertour und so weiter im Notfall genau sehen, wie viele Gäste sich in der Nähe befinden und diese mit einem Knopfdruck warnen“, erklärt Marcel Brandt. Dazu müssen die Pauschalurlauber bei der Buchung aber ihre Handnummer angegeben haben – wozu der Deutsche Reise-Verband ausdrücklich rät. Auch Individualreisende können sich demnächst über drohende Gefahren informieren lassen. A3M entwickelt eine App für Privatleute. In der Basisversion ist sie gratis, wer personalisierte Nachrichten erhalten möchte, muss bezahlen. Das Angebot kostet je nach Umfang von knapp drei Euro für die Zeit einer zweiwöchigen Reise bis zu rund 30 Euro im Jahresabo.

Die Tübingern sichten ständig mehr als 200 Quellen – darunter Nachrichtenagenturen, das Auswärtige Amt, Zeitungen, Radio- und TV-Sender, Wetterinstitute wie das National Hurricane Center. „Viele Informationen kann man auch woanders erhalten. Aber wir bündeln, ordnen und tragen die Warnungen auf einer Karte ein. Für die Touristik wurde hier eine Lücke geschlossen“, erklärt Marcel Brandt. Auch das Internet wird laufend durchforstet. „Twitter und Co. sind wie ein Seismograf. Wenn hier ein Thema hochkocht, ist meistens etwas dran. Wir bereiten dann eine Meldung vor und schicken sie raus, sobald sie von amtlichen Quellen bestätigt wurde“, erklärt Christian Reck. „Auf Fake News sind wir zum Glück noch nicht hereingefallen“, sagt Marcel Brandt. Doch manchmal nehmen die Informationen seltsame Wege. Als kürzlich direkt vor ihrer Haustür, am Tübinger Bahnhof, eine Fliegerbombe entschärft werden musste, kam die Nachricht bei den Kollegen in Hamburg an – und dann zurück nach Tübingen.