Spanien: Eilige Weintrauben

Woher die Sitte mit dem Traubenessen kommt, bleibt ungeklärt. Foto: www.bilderbox.com

Den Neujahrsjubel schieben die Spanier ein paar Sekunden auf. Wenn sich die Menschen anderswo um Mitternacht schon in den Armen liegen und Küsse austauschen, sind die Spanier noch beschäftigt: Sie essen Weintrauben. Sie verschlingen sie, verschlucken sie, stopfen sich den Mund damit voll, wie immer es geht. Wenn die Silvesternacht naht, fragen sich die Freunde gegenseitig: Und schaffst du es, die zwölf Beeren zu essen? Eigentlich geht das ja gar nicht. Aber es muss gehen. Denn so beginnt das neue Jahr: mit zwölf Weinbeeren, einer nach der anderen, im Dreisekundentakt. Erst dann wird gejubelt, umarmt, geküsst.

 

Jedes Jahr versuchen die spanischen Zeitungen wieder die Frage zu klären, woher diese Traubensitte stammt. Nach heutigem Stand des Wissens: aus dem späten 19. Jahrhundert, als ein Madrider Bürgermeister den Stadtbewohnern andere lärmende und lästige Angewohnheiten zum Jahresbeginn austreiben wollte, worauf jemand aus dem Volke auf die Idee kam, das neue Jahr, wenn schon nicht mit Sekt (den sich kaum jemand leisten konnte), dann mindestens mit Weintrauben zu begehen. Als es 1909 zudem nach reichhaltiger Ernte ein Überangebot an billigen Trauben gab, machten die Weinbauern aus Alicante im ganzen Land Werbung für die junge Tradition: Das Beerenessen zum Jahresbeginn bringe Glück. Mindestens ihnen selbst. An die 2 Millionen Kilo Trauben, die fast alle aus dem Alicantiner Anbaugebiet Vinalopó stammen, verkaufen sie jedes Jahr nur fürs Silvesterfest.

In der Silvesternacht stehen die zwölf Beeren (am besten kernlos) in jedem Haus für alle Feiernden in einem Schälchen bereit. Kurz vor Mitternacht wird der Fernseher eingeschaltet, um bloß nicht die Übertragung der Glockenschläge vom alten Postpalast und heutigen Sitz der Regionalregierung an der Madrider Puerta del Sol zu verpassen. Kurz vor zwölf tut die Glocke vier warnend helle Doppelschläge, dann dröhnt um Punkt Mitternacht der erste von zwölf tiefen Glockenschlägen durchs ganze Land. Zu jedem muss je eine Beere verschluckt werden. Eine gute halbe Minute dauert die hastige Verköstigung, danach kleben Finger und Gesicht, Traubenreste hängen noch zwischen den Zähnen, und man weiß: Das neue Jahr hat wieder gut angefangen!