Seit 100 Jahren dreht Daimler in Sindelfingen am Rad der Zukunft. Der Automobilbauer hat die Stadt weltberühmt gemacht. Heute ist der Standort der größte des Weltkonzerns. Das wird groß gefeiert: Am Freitag startet das Mercedes-Benz-Werk ins Jubiläum.

Sindelfingen - Die Uhren ticken in Sindelfingen ein wenig anders als anderswo. Den Takt bestimmt das Mercedes-Werk – mit der Daimlerhupe. Um 7 Uhr morgens ertönt sie zum ersten Mal. Einst läutete sie den Arbeitsbeginn beim Automobilbauer ein. Um 12 Uhr kündigte sie die Mittagspause an. Um 16 Uhr dann das erlösende Signal für den Feierabend. Doch die Hupe bestimmte nicht nur den Tag des Werkes. Die ganze Stadt richtete sich danach. „Wir brauchten keine Kirchenglocke. Wir hatten die Daimlerhupe“, sagt Ingrid Balzer, Jahrgang 1939: „Wenn wir auf dem Feld die Hupe hörten, ließen wir die Hacke fallen.“ Und Dieter Seizer, Jahrgang 1932, wusste: „Jetzt muss ich heim. Der Vater kommt aus dem Werk zum Essen.“

 

1926 wurde die Schiffshupe auf das Heizkraftwerk der Fabrik montiert, elf Jahre, nachdem die Daimler-Motoren-Gesellschaft sich angesiedelt hatte. Alles begann an einem Frühsommertag im Juni 1915. Und am Anfang stand ein Deal.

Sindelfingen war ein ländlich geprägtes Städtchen mit 4500 Einwohnern und wenig Industrie. Die Kommune stand im Schatten der Nachbarstadt Böblingen, die schon lange Anschluss an das Eisenbahnnetz hatte. Erst 1914 wurde auch der Sindelfinger Bahnhof eröffnet. Der Erste Weltkrieg war in der Anfangsphase, das Militär expandierte, erstmals wurden im Krieg auch Flugzeuge eingesetzt.

Daimler startete mit Flugzeugbau

Die Militärführung hatte die unbebaute Ebene zwischen Böblingen und Sindelfingen als neuen Flughafen im Visier. Die Sindelfinger, denen die Hälfte des Areals gehörte, witterten ihre Chance: Der Schultes Wilhelm Hörmann forderte für die Überlassung des Geländes die Ansiedlung von Gewerbe. „Vermutlich hätte die Armee das Areal auch ohne Zustimmung der Stadt bekommen, schließlich war es kriegsnotwendig“, sagt der Kulturamtsleiter Horst Zecha, der die Stadtgeschichte erforscht hat. Doch, so vermutet er, sei die expandierende Daimler-Motorengesellschaft mit Sitz in Untertürkheim schon länger auf der Suche nach einem Standort für die Produktion kriegswichtiger Flugzeuge gewesen. In Sindelfingen, direkt neben dem geplanten Flughafen, schien der ideale Platz zu sein.

Dann ging alles ganz schnell. Sechs Tage nach dem Brief des Bürgermeisters flatterte ein Vertragsentwurf für die Ansiedlung einer Flugzeugfabrik ins Rathaus. Eine weitere Woche später wurde der Vertrag zwischen der Stadt und der Daimler-Motoren-Gesellschaft unterzeichnet. Das Unternehmen erhielt 51 Hektar Wiesen zu einem Schnäppchenpreis: 38 Pfennig pro Quadratmeter, extrem günstig. Die Stadt trat als Zwischenkäufer bei den Grundstückseigentümern auf und musste am Ende 76 000 Mark draufzahlen. Trotzdem war die Euphorie groß. Der Gemeinderat billigte einstimmig den Deal. Die „Ansiedlung eines Unternehmens mit Weltgeltung“ sei gelungen, waren sich die Räte einig.

Werk war von Anfang an auf Expansionskurs

Doch was sie wirklich mit dieser Vertragsunterzeichnung in Gang gesetzt hatten, ahnte wohl keiner. „Nichts in ihrer Geschichte hat die Stadt so geprägt wie die Ansiedlung der Daimler-Motoren-Gesellschaft“, sagt Horst Zecha. Heute ist das Sindelfinger Werk mit 37 000 Beschäftigten das weltweit größte, mit dem Entwicklungs- und Designzentrum einer der bedeutendsten Standorte des Global Players.

Bereits in den Anfangsjahren expandierte das Werk rasant. Im November 1918 arbeiteten 5600 Menschen, davon 1000 Frauen, in der Flugzeugproduktion – mehr als die Stadt Einwohner hatte. Baracken wurden in Windeseile für die Arbeiter hochgezogen. Gegen Kriegsende wurde die Versorgung der Beschäftigten mit Lebensmitteln zum Problem. Ganz Sindelfingen sei „tagelang ohne Brot“ gewesen, heißt es in einem Bericht der Werksleitung.

Mit dem Kriegsende spitzte sich der Notstand zu. Das Werk, zu 100 Prozent auf die Rüstungsindustrie ausgerichtet, kam zum Stillstand. Täglich wurden mehrere Hundert Arbeiter entlassen. Und zum ersten Mal spürte Sindelfingen den Mechanismus, der auch die kommenden Jahrzehnte prägen sollte: Geht es dem Werk gut, blüht die Stadt auf. Geht es dem Werk schlecht, darbt ganz Sindelfingen. Allerdings änderte der allgemeine Wirtschaftsaufschwung, der 1924 einsetzte, zunächst nichts an der desolaten Situation. Im Gegenteil: „Das Jahr 1925 wurde zum schwersten Krisenjahr der Daimler-Motoren-Gesellschaft“, sagt Zecha. Die gut 1000 Arbeiter, die man im Werk mit der Möbelproduktion beschäftigte, mussten drastische Lohnkürzungen hinnehmen. Sogar die Schließung des Werks war damals im Gespräch.

Die Wende kam 1926 durch die Fusion mit der Automobilfirma Benz. Rasch ging es aufwärts. Omnibusse und Karosserien wurden produziert, die Belegschaft wuchs auf 2000 Personen. Ende der 1920er Jahre war Sindelfingen das modernste Werk des Unternehmens – mit Montagebändern, einer Vorform der Fließbänder. Die Arbeiter wurden überdurchschnittlich bezahlt: Ein Facharbeiter erhielt 1,25 Mark, ein Hilfsarbeiter 82 Pfennig pro Stunde. Die Stadt wuchs. Die Arbeiter brauchten Wohnungen. Stadt und Werk gründeten eine gemeinsame Wohnbaugesellschaft, die es heute noch gibt, auch wenn Daimler vor sieben Jahren ausgestiegen ist. Die große Weltwirtschaftskrise von 1929 beutelte Sindelfingen weniger als andere Städte, die Arbeitslosenquote war geringer.

Im Zweiten Weltkrieg arbeitete Daimler für die Luftwaffe

Mit der Machtübernahme der Nazis ging es wirtschaftlich bergauf, Hitler förderte die Autoindustrie besonders. 1934 herrschte Vollbeschäftigung. Eingebunden war das Daimler-Benz-Werk auch in das Prestigeprojekt des Führers: den Bau des Volkswagens. Die ersten Prototypen des Kdf-Wagens, dem Vorläufer des Käfers, wurden in Sindelfingen gebaut. Der Preis für diesen Aufschwung war die totale Gleichschaltung des Unternehmens mit dem Regime. Der Betriebsrat wurde ausgeschaltet, und Angestellte, die sich nicht unterordneten, wurden abtransportiert. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Werk zum Rüstungsbetrieb mit Flugzeugbau. Die Arbeiter, die an die Front gingen, ersetzte man durch Zwangsarbeiter aus Frankreich, Holland und Russland.

Als die Alliierten mit ihren Bombardements begannen, war der Rüstungsproduktionsstandort in Sindelfingen eines der bevorzugten Ziele. Am Ende des Kriegs waren 85 Prozent des Werks zerstört. Weil die Nazis wichtige Maschinen, darunter das gesamte Presswerk, rechtzeitig weggebracht hatten, konnte man ein halbes Jahr später wieder mit der Autoproduktion beginnen.

Fast jeder Sindelfinger hatte einen Angehörigen im Werk

Und es folgte der praktisch ungebremste Aufstieg des Sindelfinger Werks zum wohl wichtigsten Standort des Automobilbaus in ganz Deutschland. 1950 arbeiteten fast 13 000 Menschen im Werk. Jeder Sindelfinger hatte mindestens einen Angehörigen, der „beim Daimler schaffte“. Generationen lang war es normal, dass man nach der Schule im Werk anheuerte.

Als während des Wirtschaftsaufschwungs die Arbeitskräfte vor Ort trotzdem nicht mehr reichten, wurden Gastarbeiter aus Südeuropa geholt – und Sindelfingen wurde zur internationalsten Stadt in Baden-Württemberg. Mittlerweile gibt es Zuwandererfamilien, die seit Generationen im Werk arbeiten. So die Familie von Samet Mutlu, der Chef des Sindelfinger Jugendgemeinderats. Der Großvater kam in den 1960er Jahren aus der Türkei nach Sindelfingen. Die Söhne folgten ihm ins Werk. „Auch mein Bruder schafft dort und irgendwann ich“, sagt der 17-jährige.

Sindelfingen ist für Menschen aus aller Welt zum Synonym für Mercedes geworden. Aus China, Japan, den USA kommen die Käufer, um sich im Sindelfinger Werk ihr Auto abzuholen. Stolz sind die Bürger auf „ihren Daimler“, der die Stadt während der 70er und 80er Jahre zur reichsten der Republik machte. Eine Stadt, wo das Geld buchstäblich auf der Straße lag: die Zebrastreifen aus Carrara-Marmor sind ein bundesweit bekanntes Symbol für diese Zeit. Damals schien die Gewerbesteuer eine unendlich sprudelnde Quelle zu sein. Und im Rathaus galt die Devise: klotzen statt kleckern. Man baute ein riesiges Badezentrum, den Glaspalast, die Stadthalle, die architektonisch herausragende Bibliothek, das Rathaus – eine Infrastruktur, die einer Großstadt würdig ist.

Daimler baut Standort für 1,5 Milliarden Euro aus

Umso härter war der Absturz, als die Steuerzahlungen des Automobilbauers plötzlich drastisch sanken. Es gab kein Geld mehr für Kultur, Schulen konnten nicht mehr saniert werden. Es dauerte eine Weile, bis die Sindelfinger begriffen, dass dieses Niveau jetzt Normalität geworden war. Das Unternehmen hatte seine Politik geändert, war zum Weltkonzern geworden. Und deshalb gilt heute nicht mehr die alte Maxime, dass Wohl und Wehe der Stadt vom wirtschaftlichen Erfolg des Automobilwerks abhängt. Auch wenn es beim Daimler brummt, wird die Gewerbesteuer nie mehr so sprudeln wie in den goldenen Jahren.

Trotzdem bleibt das Werk der wichtigste Gewerbesteuerzahler. Und die Sindelfinger sind auch im 100sten Jahr immer noch stolz auf den Autobauer, der jüngst angekündigt hat, für 1,5 Milliarden Euro den Standort auszubauen. Obwohl die Arbeitszeiten vielfältiger geworden sind, ertönt immer noch vier Mal täglich die alte Schiffshupe von Daimler. Sie ist das Symbol der engen, ja symbiotischen Beziehung von Stadt und Werk. Daimler ist immer noch der Taktgeber, der Motor der Autostadt.