Die Stadt hat mehr Bürger mit Migrationshintergrund als ohne und gilt deshalb als Prototyp deutscher Stadtentwicklung. Das macht sie für Forscher interessant. Die Ergebnisse fließen in das neue Integrationskonzept ein

Sindelfingen - Großstädtisches Flair empfängt Besucher, wenn sie am Sindelfinger Busbahnhof aussteigen. „Die Mercedesstraße mit ihren türkischen Imbissen, Handy-Läden und Wettbüros könnte auch in einer Großstadt sein“, beschreiben Hendrik Stille, Burcu Künbül und Franziska Krüger ihren ersten Eindruck. Die drei Studenten kommen aus Osnabrück und wollen nun die Stadt kennen lernen. Dass man sich in einer Kleinstadt befinde, werde einem erst nach und nach bewusst – etwa bei einem Spaziergang durch die historische Altstadt. Und in den Stadtteilen Darmsheim und Maichingen sei es sehr dörflich. „Fast wie bei mir daheim“, sagt Krüger, die aus einem 1000-Einwohner-Dorf in Niedersachsen stammt.

 

Gemeinsam mit acht anderen Studenten, angeführt vom Forscher Jens Schneider, sind Krüger, Künbül und Stille in den kommenden Monaten in Sindelfingen unterwegs. Ihre Aufgabe: zu erforschen, wie die Bürger in der multikulturellen Stadt leben, wie das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien funktioniert und wie zufrieden oder unzufrieden die Menschen mit ihrer Lebenssituation sind.

Für Migrationsforscher ist Sindelfingen spannend

Anlass ist das neue Integrationskonzept, an dem die Stadtverwaltung arbeitet. „In den 1970er und 80er Jahren hatten wir einen starken Fokus auf die Ausländerpolitik. Heute spielt das keine große Rolle mehr,“ sagt Hans-Georg Burr, der Chef des Amtes für soziale Dienste. Vielleicht sei ja das Zusammenleben vieler Kulturen heute selbstverständlich geworden. „Andererseits hat die AfD große Erfolge. Also kann es doch keine Normalität sein. Das wollen wir uns anschauen.“

Für Jens Schneider ist Sindelfingen ein spannendes Forschungsobjekt. „Wir haben hier bereits jetzt die Situation, wie sie wohl bald in vielen deutschen Städten Realität sein wird: Es gibt keine deutsche Mehrheitsgesellschaft mehr. Mehr als 50 Prozent der Bevölkerung hat Migrationshintergrund.“ Deutlich wird das bei einem Spaziergang durch die Stadt. Schneider weist auf griechische, türkische, italienische Lokale hin, zeigt auf Namensschilder von Ärzten und Anwälten, die offenbar aus Osteuropa oder vom Balkan stammen. Interessant sei dabei, wie sich die Migranten im Laufe der Generationen hocharbeiteten und veränderten, sagt Schneider. „Die klassische griechische Taverne gibt es fast nicht mehr, dafür Lokale der gehobenen griechischen Gastronomie“. Und seien die ersten Zuwanderer zumeist Hilfsarbeiter gewesen, so strebten ihre Enkel nun in akademische Berufe.

Vereine und Bürger werden befragt

Systematisch untersuchen seine Studenten die Lebensverhältnisse. Künbül, Stille und Krüger befragen die Vereine in der Stadt. Sie führen Gespräche mit den Landfrauen, den Sportvereinen und einigen der Migrantenvereine. Andere Studierende besuchen die Schulen, schauen beim größten Arbeitgeber im Mercedes-Benz-Werk vorbei und sprechen mit Gemeinderäten und dem Jugendgemeinderat. In den Stadtteilen befragen sie Einwohner auf der Straße. Und sie führen intensive, generationenübergreifende Interviews mit sechs Familien. Wie geben die Älteren ihre kulturelle Identität an die Kinder weiter? Wie stark nehmen die Jüngeren diese an? Wie sehr prägt die Umgebung und deren Kultur? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der Gespräche. „Dabei sind Familien, bei denen die Großeltern aus Portugal eingewandert sind, aus Sri Lanka, der Türkei und eine Familie, die schon immer in Sindelfingen lebt“, sagt Jana Zeh, die Integrationsbeauftragte der Stadt. Sie hat die Forscher nach Sindelfingen geholt, hat sie doch selbst am renommierten Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück studiert.

Studie kostet  80 000 Euro

80 000 Euro hat der Gemeinderat für die Studie bewilligt. Ein Jahr lang sind die Forscher in Sindelfingen unterwegs. Am Ende soll dann eine Handlungsempfehlung stehen. Eine Arbeitshypothese gibt es bereits: „Die Stadtverwaltung muss multikultureller werden“, sagt Schneider. „Im Rathaus arbeiten nur wenige Menschen mit Migrationshintergrund und auf Chefebene gibt es gar keine.“ Das passe nicht zu der Stadt mit großer „Diversität“ – ein soziologischer Fachbegriff für die Vielfalt einer Stadt oder eines Unternehmens.

Vielfältig und bunt sei die Kleinstadt Sindelfingen, sagt Schneider. „Die Generation Mix bestimmt das Stadtbild.“ Menschen, die verschiedene kulturelle Traditionen miteinander verbinden. Zum Beispiel die Griechin Magarita, die in der Ziegelstraße einen kleinen Bäckerladen führt mit ausschließlich schwäbischen Backwaren wie Brezeln und Seelen. Hier trinken die Forscher am liebsten ihren Kaffee.