Vor einer Einrichtung für Magersüchtige sollen Agenturen dünne Mädchen für den Laufsteg angeworben haben. Die Branche gibt sich entsetzt. Doch eine Agenturchefin zeigt sich wenig überrascht.

Stockholm - Dass Modelagenturen versucht haben sollen, vor einer Stockholmer Anorexie-Klinik Patientinnen als Laufsteg-Mannequins anzuwerben, hat in Schweden die Empörung über die Machenschaften in der Modebranche wieder angeheizt. Doch die Suche nach den Übeltätern erweist sich als schwierig: keine der großen Firmen will mit solchen Vorgangsweisen in Verbindung gebracht werden.

 

„Sie haben 14- und 15-jährige Mädchen angesprochen“, bestätigt Christina Lillman-Ringberg vom Stockholmer Zentrum für Essenstörungen (SCÄ). „Eine war so schwach, dass sie im Rollstuhl saß. Das ist verwerflich.“ Angeblich wussten die Anwerber, wann sich die Patientinnen auf ihre Morgenrunde machten, und wandten sich dann an auserwählte Opfer. Für die Therapie sei dies katastrophal, sagt SCÄ-Chefin Anna-Maria af Sandeberg: „Wenn sie gesagt bekommen, dass sie hübsch sind, verlieren sie die Motivation, zunehmen zu wollen und gesund zu werden.“

Anwerbeversuch bei Mädchen mit BMI 14

Sie wurde auf die verwerfliche Anwerbung aufmerksam, als das Personal, das die Patientinnen begleitete, von einem Vorfall berichtete. Da sagten andere Mädchen: „Das habe ich auch erlebt.“ Eine der Angesprochenen hatte einen BMI von 14, was als krankhaft dünn gilt. Das SCÄ behandelt jährlich rund 1300 Patienten, die an Anorexie oder Bulimie leiden, teils ambulant, teils längerfristig stationär. Nun hat man an der Klinik den Tagesablauf geändert und schickt die Patientinnen nicht mehr zu festgelegten Zeiten zum Spaziergehen.

Angelica Karlsson hat mehrere Model-Angebote erhalten, als sie magersüchtig war: „Ich war 16, schwer krank und in Behandlung. Als ich auf den Transport zur Klinik wartete, kam ein Mann, machte mir Komplimente und fragte, ob ich als Model arbeiten wollte. Als ich ihm sagte, dass ich krank sei, rührte ihn das nicht weiter“, schilderte sie im Schwedischen Rundfunk.

„Man bedient sich aller Methoden, um magere Models zu finden“

Doch dass eine Branche versuche, mit kranken Mädchen Geschäfte zu machen, weisen die führenden Modelagenturen vehement zurück. „Widerlich und unethisch“ nennt Fredo Kazemi von Elite das Vorgehen. „Ich glaube nicht, dass es eine seriöse Agentur gibt, die so arbeitet. Niemand will mit krankhaft mageren Models arbeiten, und niemand will mit Anorexie verbunden werden.“ Auch Mika Kjellberg von Mikas versichert, dass ihre Mitarbeiter „so etwas nie tun“ würden. „Das ist fürchterlich unverschämt, keine Firma will kranke Mädchen ausnützen.“

Dennoch ist Madeleine Lithander, Chefin von Mandy Models, „absolut nicht überrascht“, auch wenn sie keinen konkreten Fall kennt: „Man bedient sich aller Methoden, um magere Models zu finden.“ Sie habe mehrmals Modehäuser gefragt, warum sie ihre Probekollektionen in Größe 32 und 34 fertigten, sei aber stets abgewimmelt worden. „Mannequins, die sich den Gegebenheiten nicht anpassen wollen, werden arbeitslos.“

Auch die Modelagentur Stockholmsgruppen sagt offiziell Nein zu magersüchtigen Mädchen auf dem Laufsteg, fügt aber hinzu: „Natürlich sind manche Mädchen dünn, weil das in unserer Gesellschaft eben als schön gilt und bei den Kunden sehr gefragt ist. In keiner Branche kann man überleben, wenn man den Kunden etwas verkaufen möchte, das diese nicht haben wollen.“

Magersucht: eine tückische Krankheit


Anorexia nervosa bedeutet so viel wie nervlich bedingte Appetitlosigkeit. Es ist eine krankhafte Essstörung, die durch einen starken, selbst verursachten Gewichtsverlust gekennzeichnet ist. Im Vordergrund der Magersucht steht der Wille, das Körpergewicht dauerhaft stark zu reduzieren. Die meisten Erkrankten leiden an einer Körperschemastörung: Sie nehmen sich trotz Untergewichts als zu dick wahr. Besonders häufig betroffen sind Teenager und junge Erwachsene. Magersucht kann unterschiedliche Ursachen haben, die sich häufig auch gegenseitig beeinflussen. Psychische und gesellschaftliche Einflüsse spielen Experten zufolge eine sehr wichtige Rolle.

Betroffene können sich für längere Zeit in eine Klinik begeben, in einer Tagesklinik oder ambulant behandeln lassen. Die Behandlungen ziehen sich oft über Monate oder Jahre hin, eine Garantie für Erfolg gibt es nicht. Magersucht zählt zu den psychischen Krankheiten mit der höchsten Sterberate. Rund 15 Prozent der Erkrankten sterben daran.