Ein holländischer Skandalarzt arbeitet jahrelang im Klinikum Heilbronn. In seiner Heimat wird ihm bereits der Prozess gemacht. Die Vorwürfe: neun Todesfälle wegen Behandlungsfehlern, 100 Falschdiagnosen und 13 OPs am Gehirn ohne Diagnose.

Heilbronn - Im April 2003 schien das Leben für Freddy de Haan zu Ende zu sein. „Sie haben Alzheimer“, hatte ihm der Neurologe im Krankenhaus in Enschede gesagt. „Ich glaubte ihm“, erinnert sich der ehemalige Kripobeamte im niederländischen Radio. Er verkaufte sein Haus und verlor seine Arbeit. Erst das Universitätskrankenhaus von Amsterdam, das er um eine zweite Meinung gebeten hatte, machte dem Albtraum Anfang 2004 ein Ende. „Die sagten: Sie haben nichts“, sagt de Haan. Dutzende von Patienten sollen seit Ende der 90er Jahre bis 2003 Opfer des Neurologen Ernst J. am Krankenhaus Medisch Spectrum Twente in Enschede geworden sein. Jetzt wurde bekannt: er praktizierte auch an drei Krankenhäusern in Deutschland, zuletzt in Heilbronn und davor in Bad Laasphe in Nordrhein-Westfalen.

 

Seit November läuft gegen ihn der „größte medizinische Strafprozess der Geschichte der Niederlande“, sagt die Staatsanwaltschaft Amsterdam. 21 Straftaten legt sie dem heute 67-Jährigen in den Niederlanden zur Last. Ihm wird vorgeworfen, für neun Todesfälle wegen Behandlungsfehlern, 100 Falschdiagnosen und 13 Operationen am Gehirn ohne entsprechende Diagnose verantwortlich zu sein. Die Motive des Arztes bleiben ein Rätsel. Bekannt ist, dass er nach einem Verkehrsunfall Anfang der 90er Jahre von Medikamenten abhängig wurde. Er fälschte Rezepte, veruntreute 80 000 Euro. Daher wurde er auch von dem Krankenhaus in Enschede 2003 zwangsweise in den Vorruhestand geschickt.

Am Heilbronner Großklinikum Gesundbrunnen herrscht am Freitagabend der Ausnahmezustand. Reporter belagern den Eingang, manche von ihnen dringen sogar in die Neurologische Klinik ein und filmen dort. Ernst J. wurde zufällig aufgespürt. Reporter des niederländischen Fernsehteams stießen bei einschlägigen Recherchen auf ein Foto von ihm, das sie nach Heilbronn an die Klinik führte.

„Für die Patienten und für die Klinik ist das eine Katastrophe“

Am Samstagmittag steht die Klinikleitung – unter anderem der Geschäftsführer Thomas Jendges, Chef von 5000 Mitarbeitern, und der Direktor der Neurologischen Klinik, Burkhardt Eppinger – Rede und Antwort. Bis zum Freitag seien sie völlig ahnungslos gewesen. Jendges sieht dabei nachdenklich aus dem Fenster des Konferenzraumes auf eine große Baugrube in die Tiefe, wo ein riesiger Klinikneubau aus dem Boden wächst. Burkhardt Eppinger – sein Ruhestand ist absehbar – ist erschüttert, ratlos und zutiefst verunsichert. Natürlich suche er auch bei sich selber nach Schuld, sagt er, auch wenn er nie in seinem Leben damit gerechnet habe, mit so einem Fall konfrontiert zu werden. Für die Klinik, vor allem aber für die Patienten und deren Vertrauen sei der Fall „eine Katastrophe“.

Eppinger hat am Freitag nach Bekanntwerden der Vorwürfe den gerade auch in der Klinik arbeitenden Dr. J. freigestellt. J. habe leise und sehr betroffen reagiert, seine Sachen gepackt und sei gegangen. Eppinger sagt über seine Zusammenarbeit mit J., dass er ein freundlicher, zuverlässiger und fleißiger Kollege gewesen sei, wohlgelitten bei Kollegen und Patienten. J. sei auf Honorarbasis als Assistenzarzt – eine durchaus übliche Beschäftigungsart – eingestellt gewesen. Das Klinikum schließt derzeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit aus, dass Patienten in Heilbronn geschädigt wurden. Hätte man Dr. J. aber zum Beispiel gegoogelt, hätte man schon längst stutzig werden können. Thomas Jendges räumt ein, auf diese Idee gar nicht gekommen zu sein. J. sei, wie üblich vor seiner Einstellung dreifach geprüft worden. Es gäbe auch keine Listen oder Verzeichnisse, in denen Ärzte geführt werden, gegen die vergleichbare Vorwürfe anhängig seien – schon gar nicht grenzüberschreitend.