Siegelhausen hat nur 33 Einwohner. Andreas Rath lebt schon immer in dem Marbacher Stadtteil, der ohne Busverbindung und Radweg auskommen muss.

Siegelhausen - Hinter dem Dorfbrunnen spaziert eine Katze über die Straße. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Sonst tut sich an diesem Vormittag wenig in Siegelhausen. Wie sonst auch. Das Dorf mit seinen elf bewohnten Häusern beziehungsweise Höfen liegt quasi in einem Dreiländereck – zwischen Affalterbach, Bittenfeld und Remseck-Hochdorf. Dabei ist es ein Stadtteil von Marbach. „Viele in der Schillerstadt wissen aber wahrscheinlich gar nicht, dass Siegelhausen auch dazugehört“, sagt Andreas Rath und lacht. Der 39-Jährige hat – wie schon sein Vater Helmut – sein ganzes Leben in Siegelhausen verbracht.

 

Andreas Rath kann sich nicht vorstellen, woanders zu wohnen. Schon gar nicht in der Stadt. „Gehen Sie doch mal nach Stuttgart auf die Königstraße. Wie die Leute da gestresst und gehetzt rumlaufen…“. In Siegelhausen habe man seine Ruhe. Und seine Freiheiten. „Wir können hier rumlaufen und schreien, wie wir wollen“, sagt Andreas Raths Tochter Marlene. Sie ist zwölf Jahre alt und wird gemeinsam mit ihren Geschwistern Georg (zehn Jahre) und Kim (sieben) jeden Tag von Mutter Ortrud nach Bittenfeld zur Schule gebracht.

Es fährt kein Bus nach Siegelhausen

Eine Busanbindung gibt es in Siegelhausen nicht. Das ist die Kehrseite der Medaille. Genauso wie der fehlende Radweg an der Straße nach Bittenfeld. Denn die Straße ist nicht ungefährlich. Seit etwa in Affalterbach das Industriegebiet wuchs und Neubaugebiete dazukamen, gebe es deutlich mehr Verkehr, berichtet Rath. Und die Navis lotsen beim Weg nach Bittenfeld über Siegelhausen als kürzeste Strecke. „Besonders schlimm war es, als die Bittenfelder Handballer damals in die zweite Bundesliga aufgestiegen sind“, berichtet der Siegelhäuser. „Da kam vor und nach den Spielen ein Auto nach dem anderen durch den Ort.“ Inzwischen ist zumindest dieser Spuk vorbei. Bittenfeld ist nämlich jüngst in die erste Bundesliga aufgestiegen – und trägt seine Spiele jetzt in Stuttgart aus.

Andreas Rath selbst fuhr früher mit dem Rad zur Schule. „Da ging das noch.“ Und im Winter ging er eben zu Fuß. Nicht, dass dabei nie etwas passiert wäre. Einmal kam er in einen argen Hagelschauer, ein anderes Mal brach er sich beide Arme bei einem Sturz vom Rad. Auch sein Schulranzen litt bisweilen: Als Andreas Rath einmal eine Abkürzung nehmen wollte, versuchte er, seine Sachen über einen Bach zu werfen. Die Sporttasche landete drüben, der Ranzen im Bach. Die Aufregung zuhause war riesig. Seine Mutter musste schließlich seine Hefte und Bücher bügeln.

Andreas Rath kennt jeden Einwohner

Die Kinder kennen diese Geschichte. Und wie ihr Vater von seinen Eltern werden auch sie heute jedes Mal ermahnt, wenn sie zu Schulkameraden in die Stadt gebracht werden: „Und sei nicht so laut, da wohnen noch andere Leute drumherum.“ Dabei ist es ja auch in Siegelhausen nicht so, dass die Raths hier ganz alleine wohnen. „Ich hab’s heute Morgen mal zusammengezählt“, sagt Andreas Rath. „Wir haben 33 Einwohner.“ Er kennt sie alle, die meisten gut. Für diejenigen, die nicht jeden im Ort kennen – zum Beispiel der Paketdienst – ist neben dem Dorfbrunnen eine Tafel angebracht. Darauf zu sehen sind die Hausnummern und die Lagen der einzelnen Häuser. „Ich weiß nicht warum, aber die Hausnummern sind in Siegelhausen ziemlich verwirrend“, erklärt Rath. Sein Hof, vorne rechts im Ort, hat die Nummer 16. Früher war es einmal die 10. Direkt gegenüber ist die Nummer 1, der Aussiedlerhof Richtung Bittenfeld hat die 25. Sogar ein Schweinestall trägt laut der Tafel eine Hausnummer. Die 11. Die Orientierungstafel werde gut angenommen, weiß Rath. Die Päckchen kämen inzwischen wieder bei den Adressaten an. „Früher hat man die gern irgendwo im Gebüsch suchen müssen.“

Siegelhausen ist landwirtschaftlich geprägt. Drei Betriebe gibt es noch. Andere Bauernhöfe wurden aufgegeben. Dort sind mittlerweile Neubürger eingezogen – Menschen, die es offenbar in die Idylle ganz weit draußen zieht. Zu den landwirtschaftlichen Betrieben gehört der Hof der Familie Rath. Vater und Sohn führen ihn gemeinsam und bilden derzeit auch einen Lehrling aus. „Bis 1998 waren wir ein Gemischtwarenbetrieb“, erzählt Andreas Rath. Unter anderem gab es eine Schweinemast, Milchkühe und Obstbau. Inzwischen haben Raths auf Milchvieh umgestellt. 100 Milchkühe stehen im Stall, insgesamt sind es 280 Tiere.

Hier gibt die Natur den Takt an

Vor zwei Jahren hat Andreas Rath den Schritt gewagt und eine kleine Biogasanlage gebaut. Aus dem Mist einer Kuh könnten 4000 Kilowatt Strom pro Jahr erzeugt werden, erklärt der Siegelhäuser. „Damit kann man ein Einfamilienhaus versorgen.“ Auf diese Berechnung hat Rath schon oft von Gesprächspartnern den Satz gehört: „Dann stelle ich mir einfach eine Kuh in den Garten.“ Wegen der Milch habe das noch nie jemand zu ihm gesagt, stellt der Landwirt fest. Bei vielen Menschen vermisst Andreas Rath den Bezug zu Lebensmitteln. „Der Rostbraten war nun einmal vorher ein Bulle.“ Auch, dass Kühe nicht lila sind und auch an Weihnachten gemolken werden müssen, sei nicht für alle selbstverständlich.

Andreas Rath ist mit der Natur groß geworden. Er war zum Beispiel auf dem Rad unterwegs und hat nach reifen Kirschen gesucht. „Für so etwas haben die Kinder heute gar keine Zeit mehr“, stellt er fest. Bei ihm auf dem Hof in Siegelhausen gibt die Natur den Takt an. Manchmal sind es zwölf-bis 14-Stunden-Tage. Manchmal ist außer Melken wenig zu tun. „Ich weiß heute nicht, was ich in zwei Wochen mache“, sagt Andreas Rath. „Es wird Arbeit da sein.“