Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts könnte dazu führen, dass in Stuttgart die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt. „Wir sind alarmiert und nicht erfreut“, sagt Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP).

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Ein Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts könnte dazu führen, dass in Stuttgart die Zahl der Sozialhilfeempfänger steigt. „Wir sind alarmiert und nicht erfreut“, sagt Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP). Die obersten Sozialrichter hatten am Donnerstag vor einer Woche entschieden, dass EU-Bürger, die sich länger als sechs Monate in Deutschland aufhalten, Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum haben. Geklagt hatte eine rumänische Familie, die seit 2008 im Ruhrgebiet lebt.

 

Von Hartz-IV-Leistungen sind EU-Bürger, die nur zur Arbeitssuche nach Deutschland kommen, per Gesetz seit 2007 ausgeschlossen. Ein Anspruch auf Sozialhilfe gelte jedoch den Kasseler Richtern zufolge bei einem „verfestigten Aufenthalt“. Den sieht das Bundessozialgericht bei sechs Monaten gegeben. Drohen jetzt den Kommunen hohe Mehrkosten? Während die Hartz-IV-Leistungen der Bund zahlt, müssen die Kommunen für die Sozialhilfe aufkommen.

Sozialbürgermeisterin wartet auf Urteilsbegründung

Deutschlandweit wird mit 130 000 Personen gerechnet, vor allem Zugezogene aus Rumänien und Bulgarien, die Sozialhilfeansprüche geltend machen könnten. Der Landkreistag geht von dieser Zahl aus und beziffert die Mehrkosten für Landkreise und kreisfreie Städte auf 800 Millionen Euro. „Eine Verschiebung zu 100 Prozent auf die kommunale Ebene ist so nicht hinnehmbar“, kritisiert zudem der Sozialdezernent beim Städtetag Baden-Württemberg, Benjamin Lachat. Da die Urteilsbegründung noch nicht vorliege (laut Bundessozialgericht nimmt diese zwei bis drei Monate in Anspruch), hält er sich mit einer weiteren Bewertung aber zurück.

Auch die Stuttgarter Sozialbürgermeisterin will, bevor sie sich näher äußert, die Urteilsbegründung abwarten. Sie stellt aber klar, dass sie nach allem, was bis jetzt bekannt ist, den Bundesgesetzgeber gefordert sieht. „Hier müssen klarstellende Regelungen vom Bundesgesetzgeber getroffen werden“, sagt Fezer – denn „so kann’s nicht gehen“. Das Sozialamt hat bereits mit der Flüchtlingskrise große Herausforderungen zu meistern. „Das fehlte gerade noch“, meint die Sozialbürgermeisterin.

Mehr Osteuropäer besuchen die Vesperkirche

Wie viele EU-Bürger in Stuttgart infolge des Urteils nun Sozialhilfe in Anspruch nehmen könnten, kann sie nicht abschätzen, Gleiches gilt für die Kosten. Eigentlich haben in der Regel nur Personen Anspruch auf Sozialhilfe, die nicht erwerbsfähig sind. 6926 Stuttgarter, die nicht in Einrichtungen leben, haben laut dem Sozialamt Ende 2014 Grundsicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung bezogen, 638 bekamen zudem Hilfe zum Lebensunterhalt.

Die Diakoniepfarrerin Karin Ott kann zwar verstehen, wenn nun Ängste vor einer neuen Armutsmigration aus Osteuropa aufkommen. „Der momentane Zustand ist aber auch nicht tragbar“, betont Ott und macht auf die Einzelschicksale aufmerksam, die keinerlei Ansprüche hätten. Das Einzige, was diesen Menschen angeboten werde, sei eine Rückfahrkarte. Das Hilfesystem sei nicht für sie da. Ihnen bleibe nichts übrig, als im Schlossgarten zu nächtigen. „Die, die ich kenne, haben alle keinen legalen offiziellen Wohnsitz“, sagt die Diakoniepfarrerin. Inwiefern man da den Aufenthalt überhaupt gegenüber den Behörden nachweisen könne, sei die Frage. „Es fehlt eine europäische Sozialpolitik“, konstatiert sie.

Schon bei der vergangenen Vesperkirche hat sie festgestellt, dass vermehrt arme Osteuropäer den Weg zu ihnen gefunden haben – für die 22. Vesperkirche, die am 17. Januar startet, geht sie von einer weiteren Zunahme aus. Mit vielen Flüchtlingen rechnet sie in der Vesperkirche hingegen nicht. Man biete traditionelle Hausmannskost, das sei für Flüchtlinge nicht attraktiv.

Willkommen ist in der Vesperkirche jeder. „Es ist genug für alle da“, sagt Karin Ott. Das gilt für die Diakoniepfarrerin nicht nur für die Vesperkirche. Umso deprimierender empfindet sie die Armutszahlen. Rund 48 000 Menschen seien in der Stadt auf Hartz IV oder Sozialhilfe angewiesen. 74 500 Menschen haben laut Stadt die Bonuscard. Gerade die Altersarmut sei in den vergangenen Jahren gestiegen, klagt Karin Ott, da dürfe man nicht wegschauen.