Spaniens Wirtschaft liegt am Boden. Die ganze Wirtschaft? Die Autoindustrie hält sich besser, als man denkt. Sie ist die zweitgrößte Europas. Selbst Seat, das alte Sorgenkind des Volkswagenkonzerns, investiert in die Zukunft.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Martorell - Als kleiner Junge hat Raúl Sánchez „Moderne Zeiten“ gesehen. Er lächelt bei der Erinnerung an Charlie Chaplin, wie er, mit zwei Schraubenschlüsseln bewaffnet, verzweifelt dem Rhythmus des Fließbandes hinterherzukommen versucht. Jetzt steht Sánchez selbst am Band. Als er vor acht Jahren in der Automontage begann, fühlte er sich manchmal wie der Film-Chaplin. „Du träumst sogar, dass du nicht nachkommst“, erinnert er sich. Doch das ist lange her. „Wenn du dich eingearbeitet hast, ist es nicht mehr so beschwerlich.“

 

Der 31-jährige Sánchez ist einer von 7000 Fabrikarbeitern beim spanischen Autohersteller Seat im katalanischen Martorell im Nordosten des Landes. Er baut den neuen Leon zusammen, derzeit das Schmuckstück der Marke. Genauer gesagt leistet er seinen Teil dazu. Er verschraubt einen Querträger an der Rückseite der Karosserie, 352-mal am Tag. Für einen Arbeitsgang hat er 70 Sekunden Zeit. Seine Bewegungen sind eingespielt. Er rollt den Querträger auf einem Arbeitswagen heran, der genau die richtige Höhe hat, damit sich Sánchez weder bücken noch strecken muss. Mit wenigen Handgriffen ist die Arbeit getan. Es sieht leicht aus. So soll es auch sein. „Früher musste man das Gewicht mit der Hand aufnehmen“, erzählt Sánchez. „Das geht dir am Ende des Tages auf den Rücken.“

Seat hat 800 Millionen Euro investiert, um in Martorell den neuen Leon herstellen zu können – und dabei Hunderte kleinere Neuerungen wie den Arbeitswagen für Raúl Sánchez eingeführt. Das ist gut für die Arbeiter bei Seat. Noch besser ist, dass Seat überhaupt in die Zukunft in Martorell investiert. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Seit dem Einstieg des Volkswagen-Konzerns im Jahr 1986 in den ehemaligen Staatsbetrieb hat Seat, die einzige spanische Automarke, ihrem Besitzer nicht viel Freude bereitet.

Seat schien schon lange reif zum Verkauf

In den Jahren, in denen Seat keine Verluste machte, wies das Unternehmen höchstens bescheidene Gewinne und Umsatzrenditen aus. Deswegen tauchte 2005 schon mal das Gerücht auf, dass VW die Marke meistbietend verkaufen und in Martorell bestenfalls Autos anderer Konzernmarken bauen lassen könnte, ein schnell dementiertes Gerücht. Doch die Lage des spanischen Autobauers hat sich seitdem nicht verbessert. In den letzten vier Jahren hat Seat rote Zahlen geschrieben. Dass Volkswagen seine spanische Tochter in schwachen Momenten am liebsten verstoßen würde, ist kein abwegiger Gedanke.

Seats Probleme sind teilweise hausgemacht. „Bis heute hat Seat keinen eigenen Charakter“, stellte der italienische Autodesigner Walter de Silva fest, als er 1999 von Alfa Romeo zu Seat wechselte, um das Entwicklungszentrum in Martorell zu leiten. Anderthalb Jahrzehnte später hat sich noch immer kein unverwechselbarer Seat-Charakter herausgebildet. Mediterran soll der sein, Emotionen wecken. Nun gut, doch warum baut Seat dann einen alten Audi A4 nach, der auch unter dem Namen Exeo kein südliches Flair ausstrahlen will? Beim Unternehmen selbst müssen Zweifel aufgekommen sein, denn nach nur vier Jahren hat es die Exeo-Produktion wieder eingestellt. Seats Selbstfindungsprozess ähnelt dem eines Teenagers auf der Suche nach seiner Rolle in der Welt. Auch wenn dieser Teenager schon 60 Jahre alt ist.

In fünf Jahren ist die Produktion tot

Möglicherweise haben die Probleme der Automarke auch mit ihrem Heimatland zu tun. Den Verdacht hegte Bernd Pischetsrieder, der spätere Vorstandsvorsitzende des Volkswagenkonzerns, in seiner Zeit als Seat-Chef zwischen 2000 und 2002. Ein „industrieller Globetrotter“, sagte er damals, würde bestimmt nicht Spanien als Standort für ein Autowerk wählen. Er warnte vor steigenden Produktionskosten und Löhnen. Auch die Abwesenheitszeiten machten ihm Sorgen. Getriebe zum Beispiel könne der VW-Konzern in der Tschechischen Republik billiger produzieren als in Spanien, ein Wink mit dem Zaunpfahl. Ein paar Jahre später hatte sich Pischetsrieders Meinung über die Spanier nicht geändert. „Spanien ist bei der Automobilproduktion nicht mehr so wettbewerbsfähig wie früher“, sagte er 2006. „Seine Attraktivität ist gesunken.“

Solche Sätze eines Konzernchefs muss man nicht auf die Goldwaage legen. Sie dienen dazu, die Gewerkschaften nicht übermütig werden zu lassen, sind Teil des alltäglichen Klassenkampfes. Martin Winterkorn, Pischetsrieders Nachfolger als VW-Lenker, war schon etwas gnädiger – trotz einbrechender Gewinne. Seat habe unter dem VW-Schirm eine „blendende Zukunft“, versprach er im März 2009. Doch wenige Tage darauf erschien in der Sonntagsausgabe der spanischen Tageszeitung „El País“ ein Interview mit dem indischen Volkswirt Pankaj Ghemawat, der an der IESE Business School in Barcelona arbeitet. Er sprach Worte wie Donnerhall: „Die Automobilindustrie wird in Spanien nicht länger als fünf Jahre überleben“, sagte er und wurde konkret: „Auch wenn sich die katalanische Regierung bemüht, die Seat-Fabrik in Martorell zu retten, hat die Fabrik keine Aussicht zu wachsen. Es ist eine Frage der Zeit, bis sie an einen anderen Ort verlagert wird. Und im Rest Spaniens wird dasselbe geschehen.“

Die fünf Jahre, die Ghemawat der spanischen Autoindustrie gab, sind bald um. Es wäre interessant zu erfahren, ob er weiter an die Schließung des Seat-Werkes in Martorell und der 16 anderen Autofabriken in Spanien innerhalb der kommenden drei Monate glaubt. Auf Anfrage lässt er mitteilen, dass ihn seine Studien in letzter Zeit auf andere Felder geführt hätten und er Fragen zur Automobilindustrie deshalb nicht beantworten könne.

Spanien bleibt der zweitgrößte Produktionsstandort der EU

Wer schlechte Zeiten ankündigt, sollte bei den Datumsangaben vorsichtig sein. Es ist wahr, dass in Spanien 2003 drei Millionen Autos hergestellt wurden und 2012 waren es nur noch knapp zwei Millionen. Der Abstieg ist eindeutig, aber nicht unaufhaltsam. In den ersten zehn Monaten des vergangenen Jahres ging die Produktion um gut neun Prozent im Vergleich zum Vorjahr nach oben. Spanien ist nach Deutschland und mit hauchdünnem Vorsprung vor Frankreich noch immer der zweitgrößte Autobauer in der EU. Im vergangenen Jahr wuchsen nur zwei europäische Automärkte: Großbritannien und Spanien – im Dezember sogar um 18 Prozent.

Und die Hersteller setzen weiter auf Spanien. Nicht nur Seat hat in neue Produktionsanlagen investiert. Die meisten Konkurrenten, von Ford über Opel bis Renault, haben es den Spaniern in den vergangenen Monaten gleichgetan. Der Verband der spanischen Automobilproduzenten, Anfac, beziffert das Investitionsvolumen der jüngeren Zeit auf 3,5 Milliarden Euro. Ein bisschen Zukunft hat der Sektor noch.

Dass die Autokonzerne aus aller Welt ausgerechnet auf Spanien als Produktionsstandort setzen, überrascht. Schließlich steckt Spanien in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten. Ein Viertel der aktiven Bevölkerung findet keine Arbeit. Seit Beginn der Eurokrise sank die Zahl der Neuanmeldungen rapide, 2012 markierte den Tiefststand von knapp 700 000 Pkws, weniger als halb so viele wie fünf Jahre zuvor. Deshalb sind die jüngsten Zuwächse auch relativ. Der Heimatmarkt alleine würde die Investitionen der spanischen Autofabriken nicht rechtfertigen. Mittlerweile geht fast jedes neunte Fahrzeug ins Ausland. Mit einem Anteil von gut 10 Prozent an allen Exporten ist die Autoindustrie eine der Säulen des Außenhandels.

Nun loben alle die Wettbewerbsfähigkeit

Doch warum lassen, außer der spanischen Seat, auch VW, Renault, Nissan, Mercedes, Opel, Ford, Peugeot-Citroën und Iveco ihre Fahrzeuge in Spanien bauen, trotz der osteuropäischen Standortkonkurrenz? Vielleicht weil „Spanien zurzeit das wettbewerbsfähigste Land“ sei, sagt Carlos Ghosn, der Präsident von Renault-Nissan. Das klingt anders als die Unkenrufe von Bernd Pischetsrieder. Was hat sich in der Zwischenzeit getan? „Unsere Beschäftigungsverhältnisse gelten heute nicht mehr als archaisch, sondern als avantgardistisch“, glaubt José Manuel Machado, der Chef von Ford Spanien. Auch Manuel García Salgado vom Metallverband der Gewerkschaft UGT führt die „Arbeitsflexibilität“ an, um zu erklären, warum die spanische Autoindustrie die Krise besser meistert als andere Wirtschaftszweige. Der andere Faktor seien die Zulieferer.

So verlockend es aus Sicht eines international agierenden Unternehmens ist, eine Fabrik dort zu bauen, wo die Löhne niedrig sind, so wichtig ist es, die vorhandene Infrastruktur zu berücksichtigen. Da kann Spanien trumpfen. Laut Stefan Loth, dem Direktor der Seat-Fabrik in Martorell, sei der Standort interessant, „weil es eine Lieferantenstruktur“ gibt, einen Mikrokosmos aus erfahrenen Zulieferern neben dem Makrokosmos der großen Autofabriken. Das Werk in Martorell hat gerade den Lean-Award erhalten, eine Auszeichnung für schlanke Produktionsstrukturen. „Wir arbeiten mit möglichst geringen Beständen an der Linie, mit so wenig Materialumlauf, wie es geht“, erklärt Loth. Dieses Minimalprinzip lässt sich nur dank der über Jahrzehnte perfekt eingespielten Zusammenarbeit mit den Zulieferern verwirklichen.

Ist Seat, so wie die gesamte spanische Autoindustrie, also auf dem Weg raus aus der Krise? „Sicher“, sagt Matías Carnero, der Seat-Betriebsratsvorsitzende. „Wir treffen seit zwei Jahren korrigierende Entscheidungen, was die Flexibilität und die Unternehmenskosten angeht, damit der Konzern weiter Vertrauen in Seat hat.“ Mit der aktuellen Belegschaft könnten in Martorell 500 000 Autos im Jahr gebaut werden, es sind aber nur rund 390 000. „Wenn wir die Belegschaft der Produktion anpassen müssten, wären viele Arbeiter überflüssig“, sagt Carnero. Doch statt auf Entlassungen setzte Seat auf Verhandlungen mit den Gewerkschaften, die mäßige Lohneinbußen und freiwillige Auszeiten für die Beschäftigten hinnahmen. „Gott sei dank haben wir eine Unternehmensleitung, die versteht, dass wir keinen Konflikt brauchen können“, sagt der Betriebsrat.

Raúl Sánchez ist froh, in Martorell beschäftigt zu sein. Früher, in den Boomjahren, erzählt er, „wollte hier niemand anfangen, weil man draußen mehr verdienen konnte. Heute bringen sich die Leute dafür um, um hier reinzukommen.“ Aber fürchte er nicht manchmal doch um seine Stelle? „Nein“, sagt er, „im Moment nicht.“