Bei der Türkeipolitik haben Sie doch auch eine radikale Wende vollzogen, denn den Beitritt haben Sie, anders als die Kanzlerin, jahrelang unterstützt…
Die Leute wissen, dass mir seit zwei Jahrzehnten das gemeinsame Schicksal von Europa und der Türkei sehr am Herzen liegt. Für diesen Kurs habe ich ja auch oft die Hucke vollbekommen. Aber wenn Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei geschleift werden, wenn Deutsche willkürlich verhaftet werden, ist der Punkt erreicht ist, wo man ein klares Signal nach Ankara senden zu muss. Erdogan testet, wie weit man gehen kann. Deshalb müssen wir gegenhalten. Und uns dabei immer klarmachen: Erdogan ist nicht die Türkei.
39 Prozent der Wähler wollen Merkel nicht mehr. Weshalb ist das nicht Wasser auf Ihre Mühlen?
Die These, die Wahl sei entschieden, weil Meinungsforschungsinstitute und Journalisten das so beschlossen haben, kann ich nicht akzeptieren. Meine Werte sind zuletzt leicht gestiegen und die Hälfte der Menschen ist noch nicht entschieden. Die Unentschlossenen wollen Argumente hören und möglicherweise rächt sich jetzt das argumentative Vakuum, das die Union „Wahlprogramm“ nennt.
Ihr guter Freund, EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, hat in dieser Woche seine Vorstellungen für die nächsten Jahre präsentiert. Für welche EU würde ein Bundeskanzler Schulz eintreten?
Ich will ein starkes Europa. Aber auch ein besseres. Wir müssen zum Beispiel damit Schluss machen, dass wir über Strukturfonds ärmere EU-Regionen in Nicht-Euro-Ländern fördern, die dann mit Niedrigsteuersätzen Unternehmen aus dem Euroraum weglocken. Zur Solidarität in Europa gehört ein Verbot des Steuerdumpings. Es kann nicht sein, dass sich Länder mit derselben Währung weiter einen Unterbietungswettbewerb zum Beispiel bei der den Unternehmenssteuern liefern. Und wir müssen endlich mit einer europäischen Institution, etwa in Gestalt eines Finanzministers, die länderübergreifende Steuervermeidung und Steuerflucht wirksam bekämpfen. Das mag sich technisch anhören, aber wenn wir das nicht sofort anpacken, fürchte ich einen riesigen Vertrauensverlust. Ein Bäcker in Stuttgart muss seinen Gewinn voll versteuern, der Reibach eines internationalen Konzerns nebenan landet in einer Steueroase. In diesem Sinne halte ich eine Reform der Eurozone für überfällig.
Sonst ist alles gut? Wir erleben doch auch eine politische Spaltung des Kontinents.
Da haben Sie recht. Und es bringt mich auf die Barrikaden, dass diese drohende Spaltung Angela Merkel und Wolfgang Schäuble nicht interessiert. Wenn irgendwo in Europa ein Defizitkriterium überschritten wird, schrillen im Finanzministerium die Alarmglocken. Dann wird richtig zugelangt. Wolfgang Schäuble wollte in Griechenland, wo fast ein Drittel der Bevölkerung keine medizinische Versorgung hat, sogar die Mehrwertsteuer für Medikamente erhöhen lassen, was am Ende verhindert werden konnte. Wenn aber ein rechter Nationalist wie Victor Orban jede Aufnahme von Flüchtlingen ablehnt und sogar ein gegenteiliges Urteil des Europäischen Gerichtshofes ignoriert, kuscht Angela Merkel.
Wenn man sie so reden hört, scheint eine künftige Zusammenarbeit mit Merkel quasi ausgeschlossen.
Ich trete ja auch an, um sie ablösen.