Dopingskandale, Korruptionsaffären, Spielmanipulationen – all das hat 2014 Schlagzeilen gemacht. Doch der Sport taugt zum Glück weiterhin auch als große Inspirationsquelle.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Die Zuschauer erheben sich, als Allister Carter, den alle nur Ali nennen, das Barbican Centre in York, Großbritannien, betritt. Es ist der 27. November 2014, und die Menschen im Saal werden Zeugen eines märchenhaften Comebacks. Sie ehren einen, der überlebt hat. Es läuft die erste Runde der UK Championship, dem nach der WM wichtigsten Snooker-Turnier, und am Tisch steht Ali Carter. Carter ist 35 Jahre alt, und zum zweiten Mal hat er den Krebs besiegt und sein Leben gewonnen. „Die Ovationen wurden mit Warmherzigkeit gespendet und mit der bescheidenen Erhabenheit angenommen, die er auch während seiner sechsmonatigen Krebsbehandlung gezeigt hatte. Er ist einer der kleinsten Spieler, aber er hat in diesem Jahr das Herz eines Riesen gezeigt“, so die BBC über den Mann, dessen wundersame Geschichte auf der Insel zahllose Menschen bewegt hat. Es ist die Geschichte eines Überlebenden.

 

Ali Carters Kampf gegen den Feind in seinem Körper dauert mehr als ein Jahrzehnt. Er beginnt mit einer Autoimmunerkrankung: 2003 wird bei ihm die Darmkrankheit Morbus Crohn fest gestellt. Schmerzen werden sein ständiger Begleiter, immer wieder ist er kurz davor zu scheitern, seine Karriere ist entsprechend von Höhen und Tiefen geprägt. 2011 denkt er an Rücktritt: die Schmerzen, die Formschwankungen und seine Konzentrationsprobleme werden ihm zu viel. Doch eine spezielle Diät hilft ihm, die Krankheit zu bändigen. 2012 erreicht Carter zum zweiten Mal nach 2008 das WM-Finale. Er ist im Himmel. Doch die Hölle kommt wieder. Im Sommer 2013 wird bei ihm Hodenkrebs diagnostiziert. OP, Chemotherapie. Einige Wochen später steht er wieder am Tisch.

Dem Hoden- folgt der Lungenkrebs

Im Mai 2014 folgt der nächste Schicksalsschlag. Ärzte stellen ihm erneut die Diagnose Krebs. In seiner Lunge sei ein Tumor, so groß wie ein Zwei-Euro-Stück. Er fühle sich dem Tode geweiht, so beschreibt er sein erstes Gefühl. Nach all den Anstrengungen in den Jahren zuvor fordert sein Körper ihn wieder hinaus. Er nimmt die Herausforderung an – mit Mut, Leidenschaft und positivem Denken. Unter dem Hashtag „#beatingcancer“ lässt er auf Twitter die Menschen teilhaben an seinen Ängsten, seinen Sorgen, aber vor allem an seiner Hoffnung und seinem unerschütterlichen Glauben, diesen Dämon ein zweites Mal zu besiegen. „Ich sah schon besser aus“, schreibt Carter über ein Foto, das ihn bei der Chemotherapie mit Glatze zeigt: „Und das werde ich auch wieder.“

Am vergangenen Freitag hat Ali Carter von seinem Arzt offiziell die frohe Botschaft bekommen. Der Krebs ist weg aus seinem Körper, er hat nicht gestreut. Ali Carter hat den Lungenkrebs besiegt. Die Haare sind nachgewachsen, sein Körper hat die Anstrengungen verkraftet. Er sieht gut aus. Der passionierte Flieger und Inhaber einer Pilotenlizenz hat zum zweiten Mal überlebt. „Ich kann nicht oft genug sagen, wie sehr positives Denken die Krankheit besiegt.“ In York scheidet er in der ersten Runde aus. „Was ist schon dabei, wenn ich ein Spiel verliere? Ich habe den wichtigsten Kampf meines Lebens gewonnen.“

Die andere Seite des sportlichen Sodom und Gomorrhas

Kritiker des Sports, und davon gibt es zunehmend mehr, beklagen einen Verfall der Werte im Hochleistungssport. Manche attestieren ihm gar einen ethisch-moralischen Bankrott. Und dafür gibt es gute Gründe: unzählige größere und kleinere Skandale sind ständiger Begleiter der Höher-Schneller-Weiter-Industrie. Ein Dopingskandal hier, eine Spielmanipulation dort, eine Korruptionsaffäre hier, unfaires Verhalten dort. Sodom und Gomorrha wohin man 2014 auch schaut? Das hier ist die andere Seite. Die Gute. Die Schöne.

Ali Carter ist ein Mensch des Jahres 2014. Mit seiner Geschichte und seiner Stärke ist der Brite eine dieser wunderbaren Persönlichkeiten, die dem Sport ihren besonderen Wert geben. Erfolgreiche Athleten sind mit die größten Stars der modernen Medienwelt, und Lebensläufe und Lebenskämpfe wie die von Ali Carter und anderen können Menschen inspirieren und Sportler so im besten Sinne Vorbild sein.

Möldner-Schmidt wird in Zürich Europameisterin

Wie Antje Möldner-Schmidt. Sie hat vielleicht die schönste deutsche Sportgeschichte des Jahres geschrieben. Die 30-Jährige wurde im August Europameisterin über 3000 Meter Hindernis. Am Ziel eines Lebenslaufes. 2010 wurde bei ihr Lymphdrüsenkrebs festgestellt. Zwei Lymphknoten waren befallen, aber sie hatte insofern noch Glück, dass der Krebs nicht gestreut hatte. Sie bekam vier Chemobehandlungen und zehn Bestrahlungen. Ihr Hochleistungskörper wurde somit zerstört. „Erst lacht man über sich, so ein streikender Körper hat irgendwo auch etwas Kurioses“, hat sie dem „Spiegel“ mal erzählt. „Später wird man frustriert, dann zerfrisst es einen, und man fragt sich tausendmal: warum ich?“

Möldner-Schmidt ist heute gesund und besser denn je. Sie hat lange nicht über ihre Krankheit gesprochen. Es kostete Kraft, es weckte Erinnerungen, und es war ein Kapitel, das sie hinter sich gelassen hatte und sie nicht öffentlich besprechen wollte. Was ja nur zu verständlich ist, schließlich geht es um einen sehr persönlichen Bereich.

Im April 2012 gerät Steffi Böhlers Leben aus den Fugen

„Ich habe versucht, das Wort Krebs nicht in den Mund zu nehmen, nicht mal zu Hause gegenüber meiner Familie“, sagt Möldner-Schmidt. „Das war mein Schutzschild, meine Art, damit umzugehen. Doch ich merke, dass es Zeit wird, darüber zu sprechen. Und jetzt habe ich die Kraft dazu.“ Sie geht mit ihrer Geschichte bis heute nicht offensiv hausieren, aber sie geht mittlerweile offen damit um, auch weil sie weiß, welche Bedeutung Geschichten wie die ihre haben können. Was es für andere Kranke bedeuten kann, wenn ein vom Krebs geheilter Mensch wieder Weltklasseleistungen erbringt. Mit prägend war eine Situation 2012: Möldner-Schmidt war in London Olympiasiebte geworden, als sie danach ein älterer Mann ansprach, der an der gleichen Erkrankung litt: „Sie sind ein Vorbild“, sagte er. Bei der Sportler-des-Jahres-Wahl wurde sie als „Vorbild des Sports“ ausgezeichnet. In der Laudatio hieß es: „Antje Möldner-Schmidt hat bewiesen, dass hoch gesteckte Ziele mit Optimismus, Zielstrebigkeit und Beharrlichkeit auch nach scheinbar unüberwindlichen Rückschlägen erreichbar sind.“

Am 16. April 2012 gerät das Leben von Steffi Böhler aus den Fugen. Es ist der Tag, an dem bei ihr Schilddrüsenkrebs diagnostiziert wird. Es folgt eine Operation, bei der die Schilddrüse und ein paar Lymphknotenstränge entfernt werden. Mit einer Radio-Jod-Therapie werden die letzten befallenen Zellen erfolgreich zerstört. Aber im Kopf wuchert die Krankheit auf der psychischen Ebene weiter. Es sind die Zweifel, ob der Krebs wieder kommt, das Misstrauen gegen den eigenen Körper. Sie besiegt aber auch ihre Psyche. 2014 gewinnt die 33-jährige Ski-Langläuferin Olympiabronze mit der Staffel und wird Siebte über zehn Kilometer: „Vielleicht ist die Medaille ja endlich eine Gerechtigkeit von oben.“

Daniel Engelbrechts Geschichte kennt man auch England

Daniel Engelbrechts Geschichte ist zuletzt durch alle Medien gegangen. Vor 17 Monaten bricht der Fußballer der Stuttgarter Kickers im Spiel gegen Rot-Weiß Erfurt zusammen. Die Ärzte stellen eine Herzmuskelentzündung fest, es folgen vier Operationen und ein Kampf ums Überleben. Dank eines eingebauten Defibrillators kann Engelbrecht wieder Fußball spielen. Und wie: am 6. Dezember erzielt er für die Kickers den 2:1-Siegtreffer gegen den SV Wehen-Wiesbaden in der Nachspielzeit. Seine mirakulöse Geschichte macht die große Runde, selbst auf dem unter Sportfans beliebten britischen Internetportal „The Sport Bible“ wird sie nacherzählt. In hunderten Kommentaren wird Daniel Engelbrecht als „Inspiration“ bezeichnet.

Nach seinem Torjubel hatte er sein Trikot über den Kopf gezogen, darunter war ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Nichts ist unmöglich.“ Die frohe Botschaft des Sports.