Am Silvesterabend heißt es Ade sagen: Mit „Maß für Maß“, der „Schneekönigin“ für Erwachsene und einer Party gibt es den Kehraus fürs Schauspiel.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Dieses Silvester wird sicher nicht ohne Tränen abgehen. Mit Vorstellungen der Shakespeare-Komödie „Maß für Maß“ und des Weihnachtsmärchens „Die Schneekönigin“ (in einer Special Edition nur für Erwachsene) sowie nachfolgender Party (allesamt übrigens längst ausverkauft) feiert das Stuttgarter Staatsschauspiel in der Nacht von Samstag auf Sonntag den Abschied von seinen, so nennt man das, „Ersatzspielstätten“ in der Türlenstraße. Und da darf man ja wohl ein bisschen weinen.

 

Denn dieser Ausweichort in Zeiten der Schauspielhaus-Sanierung – im Sommer 2010 für ein Jahr bezogen, woraus aufgrund von Bauverzögerungen dann anderthalb wurden – war viel mehr als eine Ersatzspielstätte. Normalerweise sind solche Zwangsversetzungen ja Gift für jeden Großtheaterbetrieb: Die Belegschaft fühlt sich auf die Straße verfrachtet, die Abonnenten maulen über komplizierte Anfahrtswege, das Laufpublikum findet die neue Adresse erst gar nicht, und die Kritiker fremdeln sowieso. Intendanten hassen solche Spielzeiten wie die Pest, weil es wenig Ruhm und allerhöchstens grauenhafte Einnahmenrückgänge zu ernten gibt. Bei Vertragsverhandlungen achten sie darum meist darauf, ihren Dienst erst anzutreten, wenn alles schön fertig saniert ist.

Das alles kam in Stuttgart anders – und dies dürfen die hierfür Verantwortlichen im Ministerium, im Rathaus und in der Staatstheater-Chefetage als großen Erfolg verbuchen: Die Schauspielsparte unter Hasko Weber geht aus ihren anderthalb Interimsspielzeiten ganz sicher nicht geschwächt hervor. Im Gegenteil: immer wieder ist jetzt von langjährigen Theaterfreunden zu hören, wie gut doch das Schauspiel in die Türlenstraße passte – und warum es dort nicht einfach für immer bleiben würde?

Die schönen Kronleuchter werden wir vermissen

Natürlich kann es dort nicht bleiben. Die Türlenstraße war theatertechnisch betrachtet immer nur Behelfsquartier. Die drei Bühnen, Werkstatt, Arena und Box ohne Unter- oder Hinterbühne, ohne angemessene Technik, ohne ausreichenden Raum für Werkstätten, Garderoben, Verwaltung – hier war und ist auf Dauer kein Staatstheater zu machen. Umso größer daher die Überraschung: Warum hat das Staatstheater an diesem eigentlich so randständigen und improvisierten Ort in den vergangenen achtzehn Monaten dennoch so wunderbar funktioniert?

Grund Nummer eins: die für das Publikum wunderschöne Ausstattung, an der es Stadt und Land zum Glück nicht mangeln ließen. Wer dieses Theater in der Türlenstraße betrat, hatte nie das Gefühl, an einen Ort zweiter Wahl zu kommen. Die große Eingangshalle, die wunderbar lange Theke, die schön ironischen Kronleuchter, die großen gesprühten Schauspielerporträts an der Rückwand, all das hatte eine Weite und Großzügigkeit, wie man sie im Kleinen Haus mit seiner Teppichboden-Gemütlichkeit nie hatte.

Der Intendant hat die Herausforderung gemeistert

Und wie es sich dann an den Spielstätten mit seinen offenen Bühnen und den Zuschauerrampen eindrucksvoll fortsetzte. Ebenso liebevoll drückte sich das Behelfsmäßige ja auch in vielen Details aus – man denke nur an die Baustellen-Warnleuchten, die den nahenden Beginn der Vorstellung ankündigten. Oder an die beiden netten Damen, die ihre Abendkasse in einem Wohnwagen eingerichtet hatten.

Womit wir schon bei Grund Nummer zwei wären: Wenn es jemals unter den Beschäftigten des Staatsschauspiels intern Unruhe gab über die Bedingungen der Auslagerung – das Publikum hat davon, soweit dies ein Kritiker beurteilen kann, jedenfalls nichts zu spüren bekommen. Ob es das Abendpersonal war, die Haustechniker oder die in aller Regel umsichtigen, im Vergleich zu anderen Häusern überaus charmanten Thekenkräfte: stets war deutlich, dass die Zuschauer sich trotz des Provisoriums willkommen und wohlfühlen sollten. Man mag das für selbstverständlich halten, aber an vielen Theatern hapert es just an dieser Stelle, und Abhilfe scheint jede menschliche Kraft hoffnungslos zu übersteigen. Dabei scheint es doch möglich zu sein.

„Drei Western“ war der beste Pollesch von allen

Beim dritten Grund schließlich stoßen wir zum künstlerischen Kern: Es war ein Glücksfall für die Württembergischen Staatstheater, dass just der Schauspielintendant Hasko Weber diese anderthalb Spielzeiten zu planen und mit seinem Team zu gestalten hatte. Sein im besten Sinn auf künstlerisch-politische Intervention, auf Diskurs, auf städtisch-bürgerliche Debatte zielendes Theater, dem jede unnütze, selbstverliebte, überkandidelte Prätention entschieden fernliegt, konnte sich am scheinbar behelfsmäßigen Ort noch einmal ganz neu entfalten.

Mögen die technischen Möglichkeiten auch begrenzt gewesen sein, praktisch jede der dort zu erlebenden Inszenierungen war für diese Bedingungen maßgeschneidert. Wenn die Arbeit scheiterte, und selbstverständlich war das auch hier geschehen, scheiterte sie jedenfalls nicht an der Bühne. Stets wirkten Arena, Werkstatt und Box gerade so, als seien die Stücke nie für einen anderen Ort gedacht gewesen – von Heiner Müllers „Bau“ und René Polleschs „Drei Western“ (der witzigste und frechste Pollesch, den es je in Stuttgart zu sehen gab) zum Auftakt bis hin zu „Maß für Maß“ und der „Schneekönigin“ jetzt beim Finale.

Keine Frage, auch das Heimkommen ins gewohnte, nun aber (hoffentlich sogar pünktlich zum Termin) aufpolierte Schauspielhaus am Eckensee wird dem Publikum gefallen. Die große Tradition des Stuttgarter Staatsschauspiels geht weiter. Aber wehmütig sind wir doch. Nicht jeder Abend war gut. Aber es war eine sehr gute Zeit in der Türlenstraße. Theater kann das leisten, wenn es Sinn und Zweck hat.