Im Stuttgarter Nord zeigt der polnische Regisseur Wojtek Klemm ein Stück des israelischen Autors Hanoch Levin: „Mord“ ist eine Parabel über Liebe und Hass, Rache und Gewalt in einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt.

Stuttgart - Die wichtigste Nachricht der laufenden Spielzeit vorweg: der neue Abend im Stuttgarter Nord dauert keine fünf Stunden und auch keine vier Stunden. Er bewegt sich erfreulicherweise jenseits der zeitlichen Exzesse, die uns die Intendanz von Armin Petras in den vergangenen Monaten zugemutet hat, ohne dass darin je ein tieferer Sinn zu erkennen gewesen wäre. „Mord“ ist nach knapp zwei Stunden vorüber, wobei man – fast so wichtig wie die vergleichsweise bescheidene Spieldauer – nicht das Gefühl hat, eine dumme Regie missbrauche die Geduld des Publikums. Im Gegenteil: Szene für Szene scheint notwendig zu sein, um den Zuschauer in die verstörende Fremdheit des parabelhaft um Rache und Krieg kreisenden Dramas von Hanoch Levin einzuführen.

 

Hanoch wer? In Deutschland ist der israelische Dramatiker nahezu unbekannt. Anders als sein Landsmann Joshua Sobol hat es Levin kaum je in die Spielpläne unserer Theater gebracht, obwohl er – ähnlich wie Sobol – in seinen Stücken brennende Probleme der Gegenwart mit großer Unerschrockenheit aufgegriffen hat. Der 1943 in Tel Aviv geborene Autor starb ebendort 1999 an Krebs, doch die ihm gegönnten 55 Lebensjahre nutzte er, um ein umfangreiches Oeuvre zu schaffen. Rund sechzig Dramen, dazu Lieder und Gedichte machten ihn zum Sprachrohr einer Generation junger Israelis, die mit den Zuständen in ihrer Heimat unzufrieden war. Levin attackierte das kleinbürgerliche Wertesystem ebenso wie den grassierenden Militarismus und versicherte sich bei seinem Kampf der Waffe des Humors: In seinem ersten Skandalerfolg, der „Badezimmer-Königin“ von 1970, griff die Ministerpräsidentin Golda Meir ihrem Außenminister ständig in den Schritt. Das tat nicht nur dem gequetschten Mann, das tat auch der bekniffenen Oberschicht über Jahrzehnte hinweg weh. Kurzum: über seinen frühen Tod hinaus zählt Hanoch Levin zu den wichtigsten und unbequemsten Dramatikern seines Landes.

Man muss das wissen, um die Pionierarbeit des Stuttgarter Schauspiels würdigen zu können. Denn auch Levins letztes, 1997 entstandenes Skandalstück ist im deutschsprachigen Raum bisher kein einziges Mal gezeigt worden: „Mord“ im Nord ist eine Erstaufführung, die uns den bekanntesten Unbekannten der israelischen Dramatik jetzt also durchaus näher bringt. Und das liegt nicht zuletzt an der überzeugenden Regie von Wojtek Klemm. 1972 in Warschau geboren, inszeniert er – zusammen mit seiner Frau, der Choreografin Efrat Stempler – mittlerweile häufig in Tel Aviv. Dass er das israelische Theater und seine Traditionen kennt, merkt man seiner Arbeit wohltuend an. Surreal montiert, auf harte Brüche und Schnitte setzend, bröckelt er Levins „Mord“ sehr kunstvoll auf die schwarze Bühne.

Ausgedörrte Hügellandschaft

Worum es in dem Dreiakter geht, ist schnell erzählt. Israelische Soldaten ermorden einen palästinensischen Jungen, dessen Vater auf Rache sinnt und ein israelisches Brautpaar in der Hochzeitsnacht ermordet, weil er im Bräutigam den Mörder seines Sohnes zu erkennen glaubt. Und ein Palästinenser, der nachts als harmloser Spanner unterwegs ist, wird von israelischen Huren ermordet, weil sie ihn fälschlicherweise für einen Attentäter halten. Mord, Mord, Mord: nicht umsonst nennt Levin sein Stück just so, „Mord“, auch wenn es ihm dabei dann weniger um die Verbrechen an sich als vielmehr um die Gewaltspirale geht, die von diesen Verbrechen ausgelöst wird – eine Akzentverlagerung, aus der die Regie im Nord die richtige Konsequenz zieht. Klemm legt sein Augenmerk nämlich nicht auf den schieren Handlungsablauf, sondern auf die sich daraus ergebende Atmosphäre, die von einer bizarren Trost-, Sinn- und Ausweglosigkeit gespeist wird: Absurdistan liegt im Nahen Osten. Und sein Boden ist von Blut durchtränkt.

Dass das Drama in Israel und Palästina angesiedelt ist, deutet die Bühne von Magdalena Gut freilich nur zeichenhaft an. Eine Mauer zieht sich von rechts nach links, ein Grenzwall, der die gesamte Spielraumbreite einnimmt – und auf der Mauer, als wär’s ein Graffito, eine ausgedörrte Hügellandschaft mit Menschenansiedlung im Hintergrund. Davor aber eine Frau im Häschenanzug aus Plüsch, die nun aber keineswegs eine heiter-frivole Bunny-Show abliefert. Nein, in ihrer stummen Ouvertüre bietet Brit Rodemund das strikte Kontrastprogramm: Sie tanzt sich in die bedrückend beunruhigende Choreografie eines Hasen, der vor Angst zittert, erregt hin- und hertrippelt und hypernervös bewegt (imaginierten) Gewehrkugeln ausweicht. Man sieht die gepeinigte Kreatur förmlich in Fluten von Angst- und Stresshormonen ersaufen, unheimliche zehn Minuten lang, bis zum finalen Schuss in der Weite der Steinwüste. Und auf der Mauer, auf der Lauer erscheinen drei Soldaten, die aus Daffke eben nicht nur einen Hasen, sondern auch einen Menschen erlegt haben: den Sohn des Palästinensers, der vom Unschuldshasen verzweifelt bis aufs Äußerste dargestellt worden ist.

Furcht, Schrecken und Mitleid

Was in der Beschreibung noch merkwürdig klingen mag, entwickelt auf der Bühne einen ungeheuren Sog. Furcht, Schrecken und Mitleid, all das ineins legt sich über den Tanz des Hasens, der sichtlich Grund hat, ein Angsthase zu sein – und so wie hier, bei der sinnfälligen Mensch-Tier-Symbolik, arbeitet Klemm auch andernorts unter Vermeidung von Kitsch und Pathos mit Überlagerungen, Verwischungen und Verschiebungen. Wie in einem Rondo lässt er zentrale Szenen wiederholen, von insgesamt sieben Schauspielern, die alle in Mehrfachrollen stecken und, so scheint’s zumindest, streckenweise auch in die Haut des jeweils anderen schlüpfen – mit der Folge, dass die Schlüsselsätze des Dramas von Mund zu Mund wandern. „Versteht: Ich bin nicht allein / Ich trage meinen Sohn auf dem Rücken“, sagen nach den Morden gleichlautend die wie Hiob gebeutelten Väter, die mit eindringlicher Sachlichkeit von Michael Stiller und Boris Burgstaller gespielt werden: Der tote Sohn muss und wird gerächt werden – bis in alle Ewigkeit!

Das Killerspiel ist ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Und dass die Gesellschaft daraus auch gar nicht erwachen will, zeigt sich in den Showeinlagen, die Wojtek Klemm schrill, laut und revuehaft in die Mordgeschichten ballert: Auf dem Dancefloor zucken kasernenhofgedrillte Körper auf dem Boden vor sich hin, in einem Nachtclub der militärisch harten Rhythmen, wie man ihn in der Amüsierstadt Tel Aviv tatsächlich im Dutzend finden kann.

Als Hanoch Levin sein Drama 1997 schrieb, konnte man von der zweiten, wenige Jahre später das Land überziehenden Intifada noch nichts ahnen. „Mord“ entstand in einer Zeit des relativen Friedens, in der sich die Mehrheit der Israelis daran zu gewöhnen schien, den Krieg als Ausnahmezustand zu betrachten. Das ist er aber nicht. Er ist, sagt Levin, der Normalzustand. Ob sich diese Brisanz des Stücks in seiner ganzen Tragweite auch außerhalb Israels vermitteln lässt, ist freilich mehr als fraglich. Trotzdem sollte man sich auf den sperrigen „Mord“ einlassen. Die Inszenierung im Nord bleibt im Gedächtnis: als Zeitbombe, die auf der Bühne weiter vor sich hin tickt.