Was macht den öffentlichen Raum erlebens- und belebenswert? Zunächst die Anderen, die Menschen, das gemeinsame Erlebnis eines städtischen Raumes. Das Erleben der Stadt ist kein linearer Prozess, sondern ein Aneinanderreihen von alltäglichen Überraschungen. Die Hochbahnsteige zum Beispiel haben in Stuttgart den öffentlichen Raum schwer belastet. Es mag gute, pragmatische Gründe gegeben haben, diese zu bauen, aber für den Besucher der Stadt sind sie zum fast unerträglichen Ärgernis geworden. Ein Unfug, der nur entstehen konnte, weil in guter Stuttgarter Tradition der öffentliche Raum zu einem Teil als reiner Verkehrsraum betrachtet wird, zum anderen als Vermarktungsfläche, die Geld bringen muss.

Unsere Häuser sind nun einmal die Wände des öffentlichen Raumes, sie bestimmen ihn. Sie müssen attraktiv sein, Schutz bieten, einladen zum Verweilen. Sie sind hier eine Erweiterung des öffentlichen Raumes. Aus der Ferne, in der Silhouette jedoch können sie Perspektiven bereichern, können sie Landmarken sein, Brüche darstellen, zu groß, zu klein sein. Landmarken, auch in einer Stadt, waren schon immer Gebäude, die eben nicht so ganz angepasst sind, die Brüche formulieren. Das Flatiron Building in New York, aber auch die Stiftskirche, die Markthalle, die Liederhalle, die BW-Bank, die Staatsgalerie sind solche Landmarken.

Endlich den Mut haben, hier etwas zu wagen


Bauwerke sollten die traditionellen, immer noch von der Klassik geprägten Kriterien von Sockel, Attika, Dach etc. gerade in Stuttgart verlassen. Die fünfte Fassade wurde hier zu selten beachtet, die Tatsache, dass der Besucher sich dieser Stadt von den Höhen nähert, auf sie herabblickt. Hier ist Mut gefordert, der Mut, das Dach nicht als Dach, sondern wie eine Fassade zu betrachten und zu bearbeiten. Dafür gibt es gelungene Beispiele an anderen Orten.

Weitere Bauwerke, individuell und mutig, formal gut, dem öffentlichen Raum und damit dem öffentlichen Leben dienend, könnten unsere Stadt bereichern, und von dieser Bereicherung kann Stuttgart noch viel gebrauchen, damit nicht nur die Hänge das positive Bild der Stadt bestimmen; damit wir uns eben nicht nur auf unsere von der Natur geschenkten Qualitäten verlassen, sondern endlich den Mut haben, hier etwas zu wagen, etwas hinzuzufügen.

Wenn wir in Stuttgart ganz gewagt werden, dann bauen wir einen Würfel. Tatsächlich möchte ich damit keine Kritik am Museum am Kleinen Schlossplatz ausdrücken - ein feines, gut funktionierendes Gebäude -, jedoch wäre es in Stuttgart überhaupt nicht möglich gewesen, etwas Besonderes, Außerordentliches oder auch visuell und inhaltlich Riskantes zu realisieren. Vielleicht hätte ich mir an diesem Ort auch ein Zeichen gewünscht, ein Haus, das unsere kulturelle Leistungsfähigkeit demonstriert, gewagt, avantgardistisch, ein formales Zentrum, über das wir hätten diskutieren, streiten können. Ein weiterer Würfel, kürzlich fertiggestellt hinter dem Bahnhof, ein Gebäude das auch die Jugend zum Lesen animieren soll, wurde als Quader abgearbeitet. Am falschen Ort, das falsche Konzept, ein antiquierter Entwurf, feindlich seiner Umgebung gegenüber. Bibliotheken sind heute fast überall sonst Lernzentren, kommunikative Orte, Treffpunkte.

Das Restaurative birgt die Gefahr des Verlusts an Attraktivität


Die Risikoscheu, die Angst vor Neuem und Besonderem, die Angst vor architektonisch Riskantem führt in Stuttgart tatsächlich zu städtebaulichen und auch architektonischen Risiken, das Restaurative führt zu Risiken für unsere Gesellschaft, die meiner Meinung nach nicht beherrschbar sind, zum Risiko des kulturellen Stillstands und zum Verlust städtischer Attraktivität und Authenzität.

Betrachten wir Architektur als ein sehr prominentes Artefakt der Menschheit, betrachten wir es als ein von Menschen geschaffenes Kulturgut, das uns Ort, aber auch Zeit definiert, so müssen wir mehr wagen, können wir von unseren Kulturschaffenden mehr erwarten als ein schlichtes Umsetzen des Willens möglichst vieler und das Abarbeiten von Problemen. Wir müssen wagen, Fehlschläge akzeptieren - und das fällt leichter, wenn etwas gewagt wurde, als wenn eine mehr oder weniger gefällige schwache Lösung schiefgegangen ist - und wir müssen aus den Fehlern lernen, das nächste Mal mutiger zu sein.

Irgendwie habe ich doch die Hoffnung, dass wir in dieser Stadt, die große Lebensqualität hat, die Theater, Oper, Kunst, die Modeszene und die Musikszene schätzt, den Mut finden, Architektur auch als kulturelle Leistung wiederzuentdecken und wieder etwas zu wagen.