Unter Primaten gibt es mehr Winterschläfer als gedacht. Auch im menschlichen Erbgut könnten Informationen für die saisonale Auszeit noch schlummern. Zwergloris begeben sich immer wieder in den Winterschlaf, wenn es in ihrer Heimat zu ungemütlich wird.

Stuttgart - Die kalten und dunklen Wochen einfach verschlafen? Für manche Menschen ist das eine durchaus verlockende Vorstellung. Und es gibt ja auch genügend tierische Vorbilder, die das problemlos schaffen. Ausgerechnet unsere nähere Verwandtschaft scheint für Winterschlaf allerdings wenig übrig zu haben. Bis vor kurzem kannten Wissenschaftler nur drei Primatenarten auf Madagaskar, die ihren Stoffwechsel für mehr als 24 Stunden herunterfahren und in diesem Energiesparmodus ungünstige Zeiten überbrücken können. Ansonsten schien in Affenkreisen das ganze Jahr über Aktivität angesagt. Nun aber hat ein Team um Thomas Ruf vom Institut für Wildtierkunde und Ökologie der Veterinärmedizinischen Universität Wien den ersten winterschlafenden Primaten außerhalb der Insel Madagaskar entdeckt: Der Zwerglori rückt die Evolution des Winterschlafs damit in ein neues Licht.

 

Schon länger hatten die Wiener Forscher den Verdacht, dass sich auch andere Mitglieder der Affen-Verwandtschaft eine heimliche Auszeit nehmen. Zwar leben viele Primaten in den Tropen, die das ganze Jahr hindurch ein relativ ausgeglichenes Klima und Nahrungsangebot bieten. „Dort gibt es daher deutlich weniger Winterschläfer als in den gemäßigten oder hohen Breiten“, erklärt Thomas Ruf. Manchmal aber kann auch in diesen Regionen eine Energiesparphase nützlich sein.

So könnte das Talent zum Winterschlaf zum Beispiel eine wichtige Rolle bei der Besiedlung Madagaskars gespielt haben. Die dortigen Primaten gehören zur Gruppe der Lemuren, die nirgendwo sonst auf der Welt vorkommen. Ihre Ahnen sollen die Insel vor etwa 47 bis 54 Millionen Jahren erreicht haben – wahrscheinlich als Mitfahrer auf im Wasser treibenden Baumstämmen. Allerdings liegt Madagaskar rund 430 Kilometer vom afrikanischen Festland entfernt, eine solche Seereise würde mindestens zwei bis drei Wochen dauern. „Das können die Tiere zwar unter Umständen ohne Futter geschafft haben“, meint Thomas Ruf. „Auf keinen Fall aber ohne Wasser“. Es sei denn, sie haben sich unterwegs in den Winterschlaf versetzt.

Zumindest einige ihrer Nachfahren beherrschen diesen Stoffwechseltrick jedenfalls noch. Er hilft ihnen vor allem, während der Trockenzeit Wasser zu sparen. Doch warum sollten alle anderen Primaten auf der Erde dieses nützliche Talent aufgegeben haben? „So einzigartig sind die Bedingungen auf Madagaskar nun auch wieder nicht“, betont Thomas Ruf. Für die Zwergloris zum Beispiel wird es in den Wäldern von Vietnam, Kambodscha, Laos und China manchmal durchaus ungemütlich. Im feucht-warmen Sommer Vietnams können die etwa zwanzig Zentimeter großen Allesfresser zwar in üppigen Insekten-Mahlzeiten schwelgen. Doch wenn die Temperaturen im Winter bis auf fünf Grad fallen, ist es damit vorbei. Warum also in diesen kargen Zeiten nicht den Körper auf Sparflamme schalten?

Tatsächlich legen Zwergloris manchmal ein auffällig träges Verhalten an den Tag. Die nachtaktiven Baumbewohner krabbeln zwar auch normalerweise nur im Zeitlupentempo durchs Geäst, springen können sie überhaupt nicht. Doch tagelang bewegungslos herumzusitzen, ist selbst für ihre Verhältnisse ungewöhnlich. Es gibt sogar Berichte über Tiere, die gar nicht reagierten und deren steifer Körper sich kühl anfühlte. „Niemand aber hatte untersucht, ob sich diese Loris im Winterschlaf befanden“, sagt Thomas Ruf. Das haben er und seine Kollegen nun nachgeholt.

Im Freilandgehege eines Primatenzentrums im Norden Vietnams haben sie im Herbst, Winter und Frühling kontinuierlich die Körpertemperaturen von insgesamt fünf Loris gemessen. Seither haben sie keinen Zweifel mehr daran, dass es sich um echte Winterschläfer handelt. Alle Tiere fuhren zwischen Dezember und Februar mehrfach ihren Stoffwechsel herunter. Vor allem an kalten Tagen nahmen sie sich solche Auszeiten, die bis zu 63 Stunden dauerten. Es ist aber wohl nicht nur die Temperatur, die sie in den Energiesparmodus versetzt. Die Forscher vermuten, dass diese Tiere genau wie andere Winterschläfer eine innere Jahresuhr besitzen, die ihnen die richtige Zeit dafür signalisiert. Zusätzlich könnte auch noch die Tageslänge eine Rolle spielen. Am Hunger scheinen sich die Loris dagegen zumindest nicht direkt zu orientieren. Schließlich bekamen sie in ihrem Reservat auch im Winter zu fressen und nutzten das Angebot auch bereitwillig.

In freier Wildbahn dagegen kann das Futter in der kalten Jahreszeit durchaus knapp werden. Die Forscher halten es daher für möglich, dass die neuentdeckten Winterschläfer ihren Körper dort noch häufiger auf Sparflamme schalten. „Vielleicht tun das auch noch andere Primaten, die bisher noch niemand untersucht hat“, meint Thomas Ruf. Für wahrscheinlich hält er das zum Beispiel bei den eng mit dem Zwerglori verwandten Plumploris, die in verschiedenen Regionen Südostasiens leben. Doch auch die afrikanischen Pottos, die einen ähnlich gemütlichen Lebensstil pflegen, könnten vielversprechende Kandidaten sein. „Wenn wir genau hinschauen, werden wir vielleicht noch eine ganze Reihe weiterer Winterschläfer unter den Primaten finden“, hofft Thomas Ruf.

Er hält es sogar für möglich, dass alle Mitglieder dieser Tiergruppe zumindest noch das genetische Rüstzeug für solche Auszeiten in sich tragen. Und zwar einschließlich uns selbst. Falls das so ist, nutzt die Menschheit dieses alte Talent allerdings schon lange nicht mehr. Schließlich stammt sie aus klimatisch ausgeglichenen Regionen Afrikas, in denen keine Stoffwechseltricks zum Energiesparen nötig waren. Und im gesamten Tierreich scheint die Devise zu gelten: Wer nicht unbedingt muss, hält auch keinen Winterschlaf. „Offenbar hat das Drosseln des Stoffwechsels eben auch Nachteile“, erklärt Thomas Ruf. Welche das genau sind, ist noch unklar. Möglicherweise arbeitet in dieser Zeit das Immunsystem nicht richtig, so dass Infektionen drohen. Versuche mit Zieseln haben zudem gezeigt, dass Winterschlaf nicht gut fürs Gedächtnis ist: Als sie aufwachten, hatten diese Nager einen guten Teil des vorher Gelernten wieder vergessen.

Kein Wunder also, wenn Menschen heutzutage den Winter nicht mehr schlafend verbringen. Ob und wie sich diese alte Fähigkeit wieder reaktivieren lässt, kann derzeit niemand sagen. Dabei könnten Menschen sie in manchen Situationen durchaus gebrauchen. So interessiert sich auch die Europäische Weltraumorganisation ESA für die Ergebnisse von Thomas Ruf und seinen Kollegen. Für die bemannte Raumfahrt wäre es schließlich durchaus praktisch, wenn man die Teilnehmer vorübergehend in einen Energiesparmodus versetzen könnte.

Doch auch medizinische Anwendungen sind denkbar. Schon heute versuchen Ärzte mitunter, den Stoffwechsel eines Patienten durch Kälte zu drosseln. Dadurch sinkt der Sauerstoffbedarf der Zellen und man kann zum Beispiel mehr Zeit für eine Operation gewinnen. Am UPMC-Presbyterian-Krankenhaus in Pittsburgh setzen Mediziner die Methode zum Beispiel bei Opfern schwerer Schussverletzungen ein, die ansonsten kaum eine Überlebenschance hätten. Sie ersetzen dazu das Blut der Patienten durch eine kalte Kochsalzlösung – eine ziemlich brachiale Methode. Viel eleganter wäre es, wenn man den Körper dazu bringen könnte, seinen Stoffwechsel aktiv herunterzufahren. „Dazu müssten wir allerdings wissen, wie Tiere dieses Kunststück genau fertig bringen“, sagt Thomas Ruf. Und obwohl Wissenschaftler weltweit dieses Geheimnis zu entschlüsseln versuchen, ist es noch immer ungelöst. Die Menschheit muss vorerst also wach bleiben.

Kurze und lange Auszeiten

Täglicher Torpor
Zahlreiche Vögel und Säugetiere können ihren Stoffwechsel für eine kurze Zeit herunterfahren, um Energie zu sparen.Sie reagieren dann kaum noch, zeigen keinerleiAktivitäten und ihr Körper wird starr. Diesen Zustand, den Biologen „Torpor“ nennen, können sie für ein paar Stunden aufrechterhalten.Anschließend wärmen sie sich dann wieder auf. Beobachtet haben Wissenschaftler dieses Verhalten bei so unterschiedlichen Tierenwie Zwerghamstern, Fledermäusen, Kolibris und einigen Primaten.

Winterschlaf
Dauert der Torpor mehr als24 Stunden an, spricht man von einem echten Winterschlaf. Auch den beherrschen etliche Säugetiere von Murmeltieren bis zu Igelnund von Siebenschläfern bis zu Braunbären. Allerdings erfordert er mehr Aufwand als eine tägliche kurze Auszeit. Die Tiere können sich nicht mehr auf ihre täglichen Stoffwechsel-Rhythmen verlassen, sondern müssen auf eine andere innere Uhr umschalten. Biologen nehmen deshalb an, dass der tägliche Torpor ein ursprünglicherer und der Winterschlaf ein höher entwickelter Stoffwechseltrick ist