Angesichts der Gräuel, die von den Nazis in Winnenden an Behinderten und Patienten eines Lazaretts für traumatisierte Soldaten begangen wurden, mahnt der Oberbürgermeister dieser Opfer zu gedenken.

Winnenden - Sieben Menschen, so harmlos wie wehrlos, sieben Menschen im Alter von 21 bis 65 Jahren, die aus ganz Württemberg zur Paulinenpflege gekommen waren: aus dem Raum Calw, von der Ostalb, aus der Gegend um Ludwigsburg oder Pforzheim. Die einen waren schon ihr ganzes Leben in Winnenden, ein anderer war im Jahr 1941 erst seit kurzem da.

 

Wehrlose Menschen skrupellos ermordet

Seit mehr als hundert Jahren nimmt man sich in der Paulinenpflege Menschen an, die geistig oder körperlich behindert sind. Nur wenige hundert Meter entfernt steht das Schloss Winnenthal, in dem ebenfalls seit mehr als hundert Jahren die Heilanstalt besteht. Doch nach der erbarmungslosen Nazi-Ideologie hatten Menschen wie die sieben aus der Paulinenpflege kein Recht zu leben. Sie waren nach den Vorstellungen der Nazis nicht „nützlich“. Das war ihr Todesurteil. Am 10. März 1941 wurden sie abgeholt, angeblich um sie nach Weinsberg in eine ähnliche Einrichtung wie in Winnenden zu bringen. Doch tatsächlich wurden sie nach Hadamar in Hessen gebracht und dort noch vor Ostern mit Gas ermordet.

„Sie freuten sich auf einen schönen Ausflug und dass sie am Abend wieder sicher zurück wären“, sagt die Stadtarchivarin Sabine Reustle, als für die Ermordeten vor dem Gebäude der Paulinenpflege an der Ringstraße Stolpersteine mit ihren Namen gesetzt werden. Die Stadträtin Ursula Bodamer, deren Großeltern jahrzehntelang in dem Haus an der Ringstraße gearbeitet und gelebt haben, bringt Fotos und Aufzeichnungen ihres Großvaters Jakob Dürr mit. „Wir mussten sie in die Heilanstalt bringen, wo sie in einem schönen Omnibus abgeholt wurden“, schreibt Dürr. „Wie sich später herausstellte, sind sie ein Opfer der grausamen Vernichtung geworden.“

Routine kennt der Stolperstein-Verleger nicht

Sabine Reustle stellt die zwei Frauen und fünf Männer in ihrer Ansprache vor: August Göhner, Eva Schittenhelm, August Schwarz, Maria Ruolff, Paul Bretschneider, Paul Wagner und Walter Ziegler. „Alle sieben hätten noch gerne lange hier gelebt“, sagt die promovierte Historikerin, deren Schilderung zu Herzen geht. So beschreibt sie die Sorgen der Mutter von Paul Bretschneider, die wusste, dass ihr 52-jähriger Sohn sehr ängstlich wurde, wenn er in einer fremden Umgebung war. „Die Vorstellung, wie er wohl seine letzten Tage erlebt hatte, ließ sie nicht los.“

Der Künstler Gunter Demnig hat acht Stolpersteine verlegt, sieben für die Ermordeten, einen für die Paulinenpflege. Routiniert hat der Mann den Asphalt aufgebrochen und die Steine gesetzt. „Routine wird es jedoch nie“, verrät er drei Jugendstadträten, die ihn hinterher befragen. „Man denkt, es kann mich nichts mehr erschüttern – und dann kommt doch wieder ein Moment der Sprachlosigkeit.“

Eine Topografie des Schreckens mahnt die Nachkommen

In der Gegend um Winnenden und Backnang sei die Zahl der Euthanasieopfer viel größer als die der ermordeten Juden. Das hat Gründe. Von einer „Topografie des Schreckens“, spricht der Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth: außer der Opfer aus der Paulinenpflege und der Anstalt Winnenden sowie der gefallenen Winnender zählen die „Patienten“ des Reservelazaretts zu den Opfern der Nazis. Dieses war in einem Nebengebäude des Schlosses untergebracht. Dort wurden schwer traumatisierte Soldaten auf schlimmste Art und Weise „behandelt“. Im Jahr 2009 wurde dort symbolisch eine Türschwelle angebracht, wo der Eingang des Gebäudes war. Tief gefallen sei die Gesellschaft damals. „Damit wir nicht wieder fallen, müssen wir stolpern lernen“, sagt der Pfarrer Reimar Krauß angesichts der Stolpersteine.

Das Projekt Stolpersteine

Projekt
: Der Künstler Gunter Demnig, geboren 1947 in Berlin, hat das Projekt Stolpersteine im Jahr 1992 ins Leben gerufen. Anlässlich des 50. Jahrestages der Deportation deutscher Roma und Sinti aus Köln verlegte er damals einen Gedenkstein vor dem historischen Kölner Rathaus. Die Stolpersteine erinnern an Menschen, die von den Nazis deportiert wurden und werden meist vor deren letzter Adresse verlegt.

Steine
: Bisher sind rund 47 000 Stolpersteine in demnächst 18 europäischen Ländern von Gunter Demnig verlegt worden. Neben den Namen, den Geburts- und Todestagen steht auf den Messingoberflächen „Hier wohnte. . .“ oder „Hier stand. . .“ oder „Hier erschossen. . .“