Die Haltung der StZ führt zu intensiven Diskussionen mit ihren Lesern. Die Zeitung muss sich positionieren - und kann nicht allen gerecht werden.

Stuttgart - "Jetzt sitze ich zwischen allen Stühlen, wo Journalisten auch hingehören." Herbert Riehl-Heyse, der im Jahr 2003 verstorbene Autor der Süddeutschen Zeitung und einer der bedeutendsten deutschen Journalisten, hat mit dieser persönlichen Bemerkung einmal eine Betrachtung über seinen Beruf beschlossen. Der Satz ließe sich noch erweitern: nicht nur Journalisten, auch ganze Redaktionen gehören mit dem, was sie an Inhalten verbreiten, niemals ausschließlich auf die eine oder auf die andere Seite. Sondern meistens genau in die Mitte, dorthin also, wo sie es kaum allen Lesern, Usern oder Zuschauern recht machen können. Zumal dann nicht, wenn sich eine Diskussion extrem polarisiert.

Die Debatte über das Bahnprojekt Stuttgart 21 hat längst diesen Grad der Polarisierung erreicht, und die Redaktion der Stuttgarter Zeitung sitzt gemessen an der Wucht der Leserreaktionen längst nicht mehr zwischen den Stühlen, sondern eher zwischen den Mahlsteinen. So, wie es bisher kaum ein Ereignis in der Stadt gegeben hat, das die Gesellschaft dermaßen gespalten hat, so hat es auch in der bald 65-jährigen Geschichte der StZ keine Auseinandersetzung gegeben, welche die Leserinnen und Leser in dieser Intensität und Leidenschaft mit der Redaktion geführt haben.

Das grundsätzliche Dilemma der Zeitung


Kritik in unterschiedlichster Ausprägung erreicht das Pressehaus aus allen Ecken: aus jener der Befürworter von Stuttgart 21 ebenso wie aus jener der Gegner; von Lesern, denen zu viel über Stuttgart 21 berichtet wird, und von Lesern, die sich zu wenig informiert fühlen. Das ist kein Grund zur Klage, denn eine Zeitungsredaktion muss solche Kämpfe aushalten. Aber es ist der Anlass, das grundsätzliche Dilemma der Zeitung zu thematisieren: Sie muss Stellung beziehen, wissend, dass sie in heftigen Gefechten nie allen gerecht werden kann.

Die Stuttgarter Zeitung hat schon lange eine klare Haltung zu Stuttgart 21: Wir sehen das Vorhaben positiv, weil wir in dem Ausbau der Schieneninfrastruktur eine große Chance für die Stadt, für die Region und das Land sehen. Zu dieser generellen Einschätzung, die in einer großen und selbstbewussten Redaktion natürlich fast ebenso kontrovers diskutiert wird wie in der Stadt, steht die Stuttgarter Zeitung unverändert. Gleichwohl sehen wir das Projekt in Einzelpunkten kritisch, etwa wenn es um eine der Ungereimtheiten in der Planung oder um nebulöse Kostenschätzungen geht. Denn genau dies ist die Aufgabe des Journalismus und die Aufgabe einer Zeitung: die "wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit", wie es im Kodex des Deutschen Presserates unter Ziffer 1 steht.

Ein Thema von allen Seiten beleuchten


Dazu gehört, ein Thema nach bestem Wissen und Gewissen von allen Seiten zu beleuchten, Behauptungen von Tatsachen zu trennen, Analysen anzufertigen und zu veröffentlichen, was die Planer vielleicht lieber verschwiegen hätten, Gegner und Befürworter gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen - und am Ende aber der Leserin, dem Leser auch eine klare Einschätzung zu liefern. Diese Einschätzung müssen sie nicht teilen, allein schon deshalb nicht, weil es selten eine endgültige Wahrheit gibt - und weil solche Differenzen zu einer lebendigen Demokratie dazugehören.

Doch eine Zeitung hätte ihre Aufgabe verfehlt, käme sie in einer für ihre Leser wichtigen Frage, wie es Stuttgart 21 zweifellos ist, nicht zu einem eindeutigen Urteil. Sie muss Einordnung bieten, nicht Beliebigkeit, und dies auf der Grundlage der "wahrhaftigen Unterrichtung". Diesem Anspruch stellt sich die Redaktion der Stuttgarter Zeitung - und sie stellt sich genauso der Debatte mit ihren Leserinnen und Lesern, die andere Positionen vertreten. Das ist für beide Seiten nicht immer bequem, aber es ist lohnenswert. Nimmt man die Beziehung zwischen Lesern und Redaktion ernst, ist die Auseinandersetzung sogar unumgänglich.