Soeben ist die Saison am Staatstheater geendet. Zeit für Bilanzen – den Auftakt macht das Ballett.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Die wichtigste Entscheidung für das Stuttgarter Ballett fiel am Ende dieser Spielzeit: Land und Stadt haben als künftigen Intendanten der Kompanie Tamas Detrich bestimmt; im Sommer 2018 soll der aktuelle Chef Reid Anderson von seinem jetzigen Stellvertreter beerbt werden. Große Erleichterung bei den einen, die damit die Cranko-Tradition am Staatstheater gewahrt sehen. Enttäuschung unterschiedlichen Ausmaßes bei den anderen, die sich für das Stuttgarter Ballett auch ganz andere künstlerische Schwerpunkte vorstellen könnten. Egal, wem man zuneigt: so erfolgreich Anderson seit 19 Jahren am Eckensee wirkt, ohne starke frische Impulse wird die Tanzsparte ihr internationales Niveau in den nächsten zehn Jahren nicht halten können.

 

Die Personalie passt zu einer Saison, die mit der Pflege just ihres großen Erbes zu glänzen wusste. Eine neue Tänzergeneration hat sich Produktionen und Choreografien erarbeitet und erobert, die zum Teil seit Jahrzehnten das Profil prägen. Dazu zählte der Ballettabend mit zwei Choreografien von Kenneth MacMillan, dazu zählte „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier. So begeisterte auch just in den vergangenen Tagen die Wiederaufnahme von Marcia Haydées „Dornröschen“. Tausende verfolgten am vergangenen Samstagabend die Liveübertragung der Ballettvorstellung im Schlossgarten. Es gibt nicht viele Städte, in denen solche Tanzereignisse derartigen Zuspruch bei den Fans, aber auch bei Neugierigen genießen.

Die größte Überraschung in dieser Abteilung der Traditionspflege war zweifellos der Ballettabend „Alles Cranko!“. Das Stück „Initialen R.B.M.E.“ war auch zuvor schon zuverlässig stets im Programm; das „Konzert für Flöte und Harfe“, der Pas de deux zu „Aus Holbergs Zeit“ und „Opus 1“ dagegen wirkten auf viele im Publikum wie neu. Erstaunlich zeitlos, ja frisch präsentierten sich die Stücke aus der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Staunen ließ auch die scheinbare Leichtigkeit, mit der die heutigen Tänzer dank starker Technik und großem Ausdruck Crankos Choreografien mit neuem Leben erfüllen konnten.

Doch trotz solcher Überraschung: bedenkt man, dass noch eine weitere Premiere der Spielzeit, „Leonce und Lena“, eine Wiederaufnahme war, kann man nachvollziehen, warum ein Tanzfreund in einer E-Mail an die StZ-Redaktion (zweifellos nicht zwingend repräsentativ) von „reiner Museumsstimmung“ am Staatstheater sprach. Schließlich zählt auch der Schöpfer von „Leonce und Lena“, Christian Spuck, längst nicht mehr zu den oft gerühmten jungen, wilden Neuentdeckungen, sondern ist als Ballettdirektor in Zürich arriviert, ist sein Werk Teil des Stuttgarter Inventars.

Die einzigen Novitäten der Saison waren im Ballettabend „Strawinsky heute“ zu erleben. Mit dem Meister der russisch-europäischen Moderne beschäftigten sich die beiden Hauschoreografen Marco Goecke und Demis Volpi sowie als illustrer Gast Sidi Larbi Cherkaoui. Und es ist dann doch bezeichnend, dass an diesem Abend die beiden Stuttgarter Schöpfungen nicht über die Grenzen des Erwartbaren hinauskamen, während andererseits das Publikum just mit der Ästhetik und Handschrift des Gastes aus der Tanzwelt merklich fremdelte. Hier zeigte sich, dass der künstlerische Austausch in der Tanzsparte des Staatstheaters noch deutlich stärker gepflegt und eingeübt werden kann – auf der Bühne, aber auch im Zuschauerraum.

Noch ein wichtiges Ereignis just am Ende der Spielzeit: Spatenstich für den Neubau der John-Cranko-Schule unterhalb der Werastraße – endlich! 45 Millionen Euro kostet der Bau, der einst zweifellos ein Vielfaches an Stadt und Land zurückgeben wird. 2018 soll die Einweihung sein. Kein Zweifel, Reid Anderson möchte damit seine dann 22-jährige Ära beim Stuttgarter Ballett krönen. Auch dort kann dann an der Zukunft des Tanzes gearbeitet werden.