Die Stuttgarter Schriftstellerin und StZ-­Kolumnistin Elisabeth Kabatek macht es Ballett-Neulingen leicht – sie bietet eine „Gebrauchsanweisung für Crankofans“ an.

Stuttgart - In zwei Wochen präsentiert das Stuttgarter Ballett im Opernhaus seinen neuen Ballettabend: vier Stücke seines Begründers John Cranko. Das nimmt die Stuttgarter Schriftstellerin und StZ-Kolumnistin Elisabeth Kabatek zum Anlass, im Stile ihrer „Gebrauchsanweisung für Stuttgart“ (Piper Verlag) eine „Gebrauchsanweisung für Crankofans“ zu schreiben. Wobei sie ihren Einstieg ganz an der „Feuerzangenbowle“ von Heinrich Spoerl ausrichtet . . .

Wo simmer denn dran? Aha. Heut hammer das Cranko Phänomen. Wat is das Cranko Phänomen? Da stelle mr uns jetzt mal janz dumm . . .

 

Sie sind also neu in der Stadt. Und jetzt wollen Sie ins Ballett, weil Sie so viel von diesem Cranko gehört haben. Man soll aber auf gar keinen Fall merken, dass Sie sich nicht auskennen? Sie hätten gern ein paar Verhaltensregeln und Insidertipps? Kein Problem!

Entrée Als Erstes brauchen Sie natürlich Eintrittskarten. Leider ist das die größte Hürde auf Ihrem Weg zum Cranko-Profi, und hier haben Sie die erste Gelegenheit zu beweisen, dass es Ihnen wirklich ernst ist. Hartnäckigkeit ist gefragt! Am besten nehmen Sie sich den ersten Vorverkaufstag zwei Monate vor Vorstellungstermin frei. Zehn Sekunden vor zehn Uhr wählen Sie die Telefonnummer 202090.

Punkt sechs Uhr öffnen sich die Türen

Und nein, das ist nicht übertrieben. Denn außer Ihnen haben sich noch mehr Ballettfans den Tag rot im Kalender angestrichen, und selbst wenn Sie Punkt zehn Uhr anrufen, werden Sie in der Warteschleife landen. „Staatstheater Stuttgart, Kartenservice, Sie werden gleich verbunden.“ Gleich ist relativ, also nur Geduld! Vielleicht gibt’s nur noch Karten mit eingeschränkter Sicht im dritten Rang, wenn Sie endlich durchkommen. Sei’s drum, Sie sind ja neu hier, und immerhin brauchen Sie sich nicht warm anzuziehen, denn in dem im Volksmund „Zwetschgendörre“ genannten dritten Rang geht’s kuschelig zu. Günstig sind die Karten außerdem!

Einstimmung Dann irgendwann ist der große Tag angebrochen. Vorstellungsbeginn ist um 19 Uhr, aber selbstredend kommen Sie nicht auf den letzten Drücker, denn um 18.15 Uhr ist Einführung in den Ballettabend. Zehn vor sechs knubbeln Sie sich zusammen mit vielen anderen, erwartungsfrohen Menschen vor den verschlossenen Türen und tauschen sich aus, wie Sie an die Karten gekommen sind. „Ich habe mir die Finger wundgewählt, um zwanzig nach zehn bin ich endlich durchgekommen!“ Oder: „Ein halbes Jahr vorher haben wir die Karten bestellt. Das Ballett ist einfach soo stark nachgefragt!“ Und: „Wenn man ein Highlight will . . . und man kann die Sachen ja öfter anschauen!“

Punkt sechs öffnen sich die Türen, Sie stürzen hinauf in den ersten Rang und sichern sich in dem prachtvollen Foyer mit Ihrer Jacke einen Stuhl, damit Sie vor der Einführung noch ein wenig flanieren und Klamotten gucken können. Was soll das heißen, Sie brauchen eigentlich gar keine Einführung, weil Sie sich mittlerweile ein solides Wissen über Cranko und das Handlungsballett oder die Einakter Ihrer Wahl angeeignet haben? Darum geht es doch gar nicht! Cranko erzählt Geschichten ohnehin so, dass man das Ballett versteht, ohne die Handlung zu kennen.

Ein Blick zu den prächtigen Kronleuchtern

Es geht darum, Präsenz zu beweisen, und um Zugehörigkeit zum Cranko-Universum. Und Sie wollen doch dazugehören? Also raunen Sie wissend oder nicken Sie scheinbar abwesend, wenn der Name Haydée oder Cragun fällt. Sollte das „Stuttgarter Ballettwunder“ erwähnt werden, dann blicken Sie hinauf zu den prächtigen Kronleuchtern und murmeln „Clive Barnes, New York, 1969.“ Sie können auch zu der Ihnen vollkommen unbekannten Nachbarin sagen, „Alles ist logisch bei John.“ Diesen Satz können Sie übrigens im Laufe des Abends mehrmals fallen lassen, er passt eigentlich immer.

Nun klettern Sie hinauf in den dritten Rang, geben Ihre Jacke ab und kaufen bei den freundlichen Damen an der Garderobe ein Programmheft. Werfen Sie einen kurzen Blick auf den eingelegten Besetzungszettel und schmettern Sie dann in Richtung der Garderobenfrauen: „Tolle Besetzung!“

Anstehen an der Damentoilette

Am besten gehen Sie noch vor der Vorstellung aufs Klo, denn in den Pausen werden Sie mit anderen Dingen beschäftigt sein. Nehmen Sie das Programmheft mit und blättern Sie darin herum. So kommen Sie schnell ins Gespräch. Zeit für ein Gespräch haben Sie in jedem Fall, vor allem, wenn Sie eine Frau sind, weil das Anstehen an der Damentoilette kann so lange dauern wie zuvor die Kartenbestellung.

Outen Sie sich aber unter keinen Umständen als Neuling, im Gegenteil! Behaupten Sie frech, dass Sie sich wahnsinnig darauf freuen, Friedemann Vogel als Onegin zu erleben, nachdem Sie ihn das letzte Mal als Lenski gesehen haben, und dann auch noch in der umwerfenden Kombination mit Alicia Amatriain, die Sie als Worschula in „Krabat“ zu Tränen gerührt hat. Bedauern Sie, dass Marijin Rademaker das Ballett verlassen hat. Merken Sie an, was für eine rasante Entwicklung Daniel Camargo genommen hat, was natürlich vor allem der Talentschmiede John-Cranko-Schule zu verdanken ist, und wie glücklich Sie darüber sind, dass die Finanzierung des Neubaus nun endlich in trockenen Tüchern ist.

Ach ja, ganz wichtig ist natürlich, dass Sie immer nur „der Friedemann“, oder „die Alicia“ sagen, so, wie Sie vorher von „John“ gesprochen haben. Sie erwecken so den Eindruck, als ob Sie regelmäßig mit den Stars des Balletts in der Kantine der Staatstheater Kaffee trinken, und unterstreichen Ihre Zugehörigkeit zum inneren Zirkel der Crankoianer.

Auf der Bühne ist ordentlich was los

Erster Teil Nun beginnt die eigentliche Vorstellung und es ist so viel los ist auf der Bühne, und diese Opulenz der Kostüme und das prachtvolle Bühnenbild, und dann passiert am Rande immer noch irgendwas Lustiges, was Sie vom Pas de deux ablenkt, und Sie wissen gar nicht, wohin Sie zuerst gucken sollen, aber keine Sorge, das ist ganz normal, daran werden Sie sich schon noch gewöhnen, und Sie kommen ja wieder.

Intermezzo Jetzt ist Pause, auf dem Klo waren Sie schon, und Sie können sich uneingeschränkt Ihren Canapés, den Antipasti und dem Champagner widmen, denn als Insider haben Sie natürlich vorbestellt und die Häppchen stehen auf Ihrem persönlichen Tischchen für Sie bereit.

Verplempern Sie aber nicht die ganze Pause damit, denn Sie müssen ja noch am Promitisch im ersten Rang vorbeiflanieren und beäugen, wer die Geschicke des Stuttgarter Balletts lenkt. Am Stehtisch plaudert der Intendant Reid Anderson wahrscheinlich gerade mit seinem Stellvertreter Tamas Detrich. Wenn Sie den Intendanten darauf ansprechen, was das Geheimnis seines Erfolgs ist, dann wird er Ihnen sicher bereitwillig Auskunft geben: die Pflege des Cranko-Erbes einerseits und die Förderung junger Choreografen andererseits.

Georgette Tsinguirides ist die Seele des Balletts

Vielleicht steht noch eine Dame mit am Tisch. Das winzige, gertenschlanke Persönchen mit dem zeitlos schönen Gesicht, das sich so grazil bewegt wie ein junges Mädchen, ist die Choreologin und Ballettmeisterin Georgette Tsinguirides, von Cranko höchstpersönlich dazu auserkoren, die Choreografien seiner Ballette schriftlich zu fixieren. Sie ist so etwas wie die Seele des Balletts, von allen hochverehrt und die höchste Instanz in Sachen korrekte Cranko-Choreografie.

Aber jetzt klingelt es und Sie müssen das Promigucken abbrechen, wenn auch noch nicht ganz. Endlich herrscht weniger Gedränge vor dem Signiertisch und Sie nutzen auf dem Weg zurück in den dritten Rang noch rasch die Gelegenheit, die Stars der Compagnie aus nächster Nähe zu betrachten und sich Ihr Programmheft oder eine frisch erworbene Devotionalie signieren zu lassen.

Furor Nun aber fällt der Vorhang. Eben noch hat Tatjana mutterseelenallein vorne am Bühnenrand gestanden, mit dieser abgrundtiefen Verzweiflung im Blick, eben noch sind Romeo und Julia vor Ihren Augen in den Tod gegangen. Sie haben die Luft angehalten vor lauter Spannung, und jetzt müssen Sie erst einmal tief durchatmen oder sich verstohlen eine Träne abwischen, denn das Drama auf der Bühne hat Sie ganz schön mitgenommen.

Jetzt aber im Schweinsgalopp hinunter ins Parkett

Aber nur eine Sekunde Pause! Denn als angehender Cranko-Profi klatschen Sie jetzt. Enthusiastisch. Lange. Bis zur Schmerzgrenze und darüber. Und natürlich brüllen Sie Bravo. Wenn Sie noch einen draufsetzen wollen, dann quetschen Sie sich aus Ihrer Reihe und sausen vom dritten Rang im Schweinsgalopp durchs Treppenhaus hinunter ins Parkett links vorne und werfen Katharina oder Petruchio einen Blumenstrauß zu, aber mit Schmackes, sonst landet er im Orchestergraben. Die Solistin oder der Solist wird die Blumen elegant aufheben und sich anmutig in Ihre Richtung hin verneigen, während Sie selbstverständlich weiterklatschen!

Nicht nur das Stuttgarter Ballett hat nämlich einen fabelhaften Ruf, auch sein Publikum. Es klatscht frenetisch, und es gibt unzählige Vorhänge, viel mehr als anderswo, was auch für die Tänzer etwas ganz Besonderes ist. Das mit dem tosenden Applaus gilt übrigens grundsätzlich, nicht nur für Cranko, sondern auch für alle, die ihm choreografisch nachgefolgt sind, für Haydée, Neumeier, Kylian, Spuck, Goecke, Volpi, und wie sie alle heißen, es gilt genauso für die junge Choreografen-Abende der Noverre-Gesellschaft, aber angefangen hat der Ballett-Wahn(sinn) mit Cranko. Also strengen Sie sich gefälligst an, und werden Sie diesem Ruf gerecht!

Ausklang Die Vorstellung ist vorüber, und während Sie sich vor der Garderobe drängeln, um Ihre Jacke abzuholen, kommentieren Sie mit Ihrer Begleitung noch einmal fachmännisch den grandiosen Ballettabend. Machen Sie jetzt nicht alles kaputt, indem Sie fragen, ob dieser Cranko irgendwo im Opernhaus Autogramme gibt. Sie können sein Grab besuchen, droben an der Solitude, wo er seit 1973 begraben liegt. Sie wundern sich jetzt, dass er schon so lange tot ist? Weil er noch so lebendig wirkt, in seinen Balletten, bei seinem Publikum, bei allen, die sein Werk pflegen, einstudieren, tanzen? Das ist er auch. Quicklebendig. Alles Cranko!